CD FRANZ SCHUBERT Symphonien Nr. 4 und 5, RENÉ JACOBS und sein B‘ROCK Orchester; Pentatone
„Der Mensch gleicht einem Ball, mit dem Zufall und Leidenschaft spielen.“ Franz Schubert,Tagebuch
Bei Schubert geht Jacobs nach einem eigenen Zwillingsprinzip vor. Nach den Symphonienkoppelungen Nr. 1 & 6, sowie Nr. 2 & 3 ist nun das Gegensatzpaar 4 & 5 an der Reihe. Wie man das von René Jacobs gewohnt ist, hat er sich in der Tiefe mit der Musik beschäftigt und seine eigenen Schlüsse gezogen.
So sieht er die Vierte Symphonie in c-Moll, die sog. „Tragische“ D 417 des neunzehnjährigen Schubert, durch die Tonart c-Moll in einer Assoziationsreihe mit der Unterwelt (Gluck, Orfeo), dem Chaos (Haydn, Die Schöpfung) und der Angst vor den finsteren Mächten (Weber, Der Freischütz). Dagegen steht die Tonart C-Dur, mit der die Ecksätze enden, für das Licht des Himmels, die Schöpfung Gottes aus dem Chaos und die Überwindung der Angst vor dem Bösen.
Bei Jacobs musikalischem Ansatz mündet der Bezug zu den menschlichen Urängsten hin zur Aussicht „auf eine auflösende Seligkeit“ in ein Kaleidoskop einer überwiegend musikalisch strukturell gedachten Themen- und Motivenschau. Flott und streng im Takt geht es dahin, das artikulatorische Primat ist wohl der Beschäftigung mit Alter Musik geschuldet. Schubert hatte im Gegensatz zu Beethovens Fünfter Symphonie in c-Moll nicht ein universelles Unglück, wie „den Tod von Helden“ im Sinn. Er wollte – wie das Jacobs völlig überzeugend analysiert – nicht das Ringen eines kräftigen Wesens gegen ein fast übermäßiges Geschick zum Ausdruck bringen, sondern die Angst eines schwachen Wesens mit dem grausamen Spiel, das Zufall und Leidenschaft mit ihm treiben, nicht fertig zu werden.
Die Interpretation des René Jacobs, die sich in Ansätzen heroisch durchsetzt zeigt, bringt insgesamt die hohe innere Nervosität und Unruhe, den „heftigen Seelenschmerz, die Mängel inneren Friedens, ein Zerfallen in sich selbst, ja sogar mephistophelische Gefühle (F.H. Hand Ästhetik der Tonkunst 1837) der Komposition zum Ausdruck. Der Hörer bekommt ein sezierendes Beobachten all der Seelenzustände der musikalischen Exegese zu hören. Ein emphatisch, wienerisch traumverlorenes Verschmelzen mit den in der Musik ausgedrückten Nöten findet nicht statt. Schon bei Jacobs Mozart-Opernsicht hatte ich öfter das Empfinden, dass er vielleicht ein wenig zu sehr im Objektiven verharrt, den Schritt von der dritten Person in die erste nicht wagt. Durch den sparsamen Umgang mit Rubati verharrt die Musik in einer Erregungssdauerschleife, ohne dass wir genau ahnen, wie schlimm es um unseren unglücklichen kleinen „Tristan“ zwischen jugendlicher Todessehnsucht und rauschhaften Perioden der Euphorie bestellt ist.
Im September 1816 vollendete Schubert seine Fünfte Symphonie in B-Dur, D 485, die Jacobs als ein „kurzes, bescheidenes, leicht zugängliches, aber gleichsam nach innen großes Werk“ wahrnimmt, mit der Schubert Mozarts über alles geliebter g-Moll Symphonie Referenz erwies. B-Dur, die Tonart der „heiteren Liebe, der Hoffnung, des Hinsehnens nach einer besseren Welt“ (Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst 1806). Leichter instrumentiert als die Vierte, hüllt Jacobs die Partitur in ein wesentlich duftigeres Klangkleid. Der gleichförmige Trab der Takte folgt auch hier einem schicksalhaften Vorwärtsdrängen. Aber schließlich kommt das Pferd in stiller Schönheit, „unaufgeregt, gewollt unpompös“ in die Koppel zurück. Die Welt hat in ihrem beständigen Drehen und Köcheln, Anbranden und Blitzen eine kurze Pause eingelegt.
Die Aufnahmequalität der in Roeselare, Belgien, im Juli 2019 aufgenommenen Vierten und der im Haus der Musik Innsbruck im Februar 2020 verewigten Fünften ist stupend. Freunde höchster Orchesterperfektion und akkurater Stabführung werden in den Aufnahmen schmackhafte Leckerbissen entdecken. Allerdings ist gerade bei Schubert musikalisch diese gewisse Prise an Ungenauigkeit im Aufbäumen, an leicht Verzögertem im Überschäumen, an geruckeltem Beschleunigen, an der zutiefst menschlichen Dimension des gerade nicht fehlerfrei Titanischen das, was die größten Interpretationen ausmacht. Dieses Empfinden von Ausdruck vor Takt, von Geruch vor Parfüm, wie Harnoncourt es in seinen Gesamteinspielungen mit dem Chamber Orchester of Europe oder den Berliner Philharmonikern unsterblich vorgeführt hat, will sich auf diesem Album nicht einstellen.
Dr. Ingobert Waltenberger