CD FRANZ SCHUBERT / LEONID DESYATNIKOV – Pavel Kolesnikov und Samson Tsoy spielen Werke für Klavier vierhändig; harmonia mundi
„Im Divertissement á la hongroise gibt es ein irreales Erscheinen und Verschwinden, vor allem im ersten Satz, der selbst auch nur eine Illusion sein könnte… Als ob das fiebrige Gelände, auf dem die Musiker fortschreiten, seine Berührung gefährlich machen würde. Treibsand.“ Camille De Rijck
Klavier vierhändig ist wieder in, wie auch an der jüngsten Publikation des französischen Pianisten Alexandre Tharaud bei Erato ersichtlich, in der er mit 22 verschiedenen „Friends“ ein Allerlei an Stücken von Bach bis Piazzolla, Haydn bis Grieg, von Ravel bis Satie und von Schumann bis Glass vorstellt. Sogar den Cellisten Gautier Capuçon und den Sänger Philippe Jaroussky konnte Tharaud dazu bewegen, sich mit ihm ans Klavier zu setzen.
Bei ihrem Debüt-Album für harmonia mundi gingen Pavel Kolesnikov und Samson Tsoy, was das Repertoire anlangt, nicht nur wählerischer, sondern auch inhaltlich stringenter vor. Das von Chopin so geschätzte „Divertissement à la hongroise“ in g-Moll für Klavier zu 4 Händen Op. 54 D. 818 und die Fantasie in f-Moll, Op. 103, D. 940 von Franz Schubert bilden den Rahmen für die Weltersteinspielung von Leonid Desyatnikovs „Trompe-l’oeil“.
Der u.a. mit Filmmusiken reüssierende russische Komponist Leonid Desyatnikov wollte analog zu einer fiktiven Geschichte von Jorge Luis Borges, in der ein Dichter namens Pierre Menard den Versuch unternimmt, den ersten Teil des „Don Quijote“ in einem historischen Spanisch neu zu schreiben, auf die Musik übertragen ähnliches mit Schuberts berühmter „Fantasie“ in f-Moll anstellen. Und er tat es nach eigenen Worten nach der Art einer Kompositionsstudie, ohne Schuberts erstes Thema zu zitieren.
Trompe-l’oeil (=Augentäuscher) ist vor allem ein aus der Malerei und Architektur bekannter Begriff, wo illusionistische Gestaltungskünste erweiterte Perspektiven, ja sogar Dreidimensionalität vorhalten, wo es in Wahrheit keine gibt. Andrea Pozzos fantastisch gemalte Scheinkuppel in der Wiener Jesuitenkirche möge als ein Beispiel dienen. Auch in der Musik Desyatnikovs geht es um Fragen der Wahrnehmung, die sich ändert, je nachdem, wie fern oder nah sich der Hörer zum Prozess der Tonwerdung befindet. Um Schuberts rätselhafte „Fantasie“ auf den ersten Anhieb so wenig ohrenfällig gespiegelt wie möglich zu interpretieren, kam eine Aufnahmetechnik, von Glenn Gould oder Friedrich Gulda praktiziert, zur Anwendung. Die Mikros wurden ganz nah an den Saiten positioniert, um auch noch die geringste Klangemission/-unebenheit hörbar machen zu können.
Das in London beheimatete Klavierduo Pavel Kolesnikov-Samson Tsoy, der eine stammt aus Nowosibirsk, der andere aus Kasachstan, traten im Rahmen der am Berliner Konzerthaus in diesem Frühling programmierten Leonskaja-Hommage exakt mit dieser Schubert Fantasie und dem „Trompe-l’oeil“ Desyatnikovs auf, wobei die Reihenfolge spannenderweise wie auf dem Album zuerst das zeitgenössische Stück Desyatnikovs vorsah. Das erhöht die wechselseitige Beziehung und die Spannungskurve beider Werke ungemein. Schubert klingt bei Kolesnikov-Tsoy in harschen Kontrastfarben musiziert eher verwunschen denn romantisch. Die Fuge im ‚Allegro molto moderato‘ entfaltet eine ungeheure Wucht bei formaler Strenge. Das emotional Zeitgenössische aus Desyatnikovs zwar als illusionistisch bezeichneter, dennoch klar Kante beziehender Komposition und Schuberts „Divertissement“ überträgt sich auf die „Fantasie“ so, dass „ihr Gewebe von den dramatischen Einsätzen ihrer Nachbarn durchdrungen wird. Man kann sagen, dass diese sie auf sehr eigenartige Weise bescheinen: Ein Tempel bei Einbruch der Nacht, zwischen dem Blau des Mondes und dem Lichtkreis einer ockerfarbenen Stadt.“
Um die widersprüchlichen Klangrealitäten und individuellen rhetorischen Anforderungen der eingespielten Stücke mit einem einzigen Instrument auf einen Nenner zu bringen, bedienten sich die Künstler via Tontechnik verschiedener Mittel. Auf dem Yamaha CFX Konzertflügel nutzen sie alle klanglichen Tricks und Möglichkeiten, um der Leuchtkraft bzw. Düsternis der Musik in all ihrer deutungssinnigen Vielschichtigkeit gerecht zu werden Da wurden etwa Seidenschals, Papierschnitzel respektive Grußkarten vertikal auf die Saiten gelegt, was erhebliche Auswirkungen auf Resonanz und Klangwirkung zeitigt. Ich kann nur sagen, das Ergebnis der gewollten Verfremdungen bzw. Vergröberungen überzeugt mich in jedem Ton. Beispiel: „Bei Schuberts Divertissement wurden bei bestimmten Passagen Stoff auf die Saiten platziert, was einen samtenen gedämpften, seltsamen und etwas unheimlichen Klang erzeugt“, wissen die beiden Pianisten zu berichten.
Das Album bietet in seiner urpoetischen Anlage und aufgerissenen Schroffheit guten Reflexionsstoff über Interpretationsspielräume und Wahrnehmungsvarianten von Musik im Wechsel der Zeiten. Das Duo Kolesnikov-Tsoy positioniert sich mit seinem bedingungslosen Anspruch an aus dem Jetzt geschöpfter Expressivität mutigerweise abseits eines vermehrt nach Gefälligkeit süchtigen Mainstreams. Das Album ist in der herben Eigenduftmarke und künstlerischen Wahrhaftigkeit jegliche Aufmerksamkeit wert!
Dr. Ingobert Waltenberger