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CD FRANZ SCHUBERT „DIE WINTERREISE“ – JOYCE DiDONATO und YANNICK NÉZET-SÉGUIN; Erato

Eine theatralische Annäherung in 24 Stationen

27.04.2021 | cd

CD FRANZ SCHUBERT „DIE WINTERREISE“ – JOYCE DiDONATO und YANNICK NÉZET-SÉGUIN; Erato

Eine theatralische Annäherung in 24 Stationen

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Joyce DiDonato, vor allem im Belkanto und im französischen Fach gefeierter amerikanischer Mezzosopran, ersann für ihre halbszenische Darbietung von Schuberts „Winterreise“ einen dramaturgischen Kniff, den sie sich von Massenets „Werther“ und seiner Charlotte abgeschaut hat. Der arme verliebte Tropf hat seiner Angebeteten sein Tagebuch mit den Gedichten per Post geschickt. DiDonato sieht darin „ein gequältes, schmerzliches Szenario“ und stellt sich folgende(n) Fragen: „Was wäre, wenn seine letzten Worte sie als eine Art von Selbstmordankündigung erreicht hätten? Was, wenn er wollte, dass sie ihn verstünde? Seinen Schmerz verspüre? Seine Qual und Verzweiflung erfahre? Sie zwingen würde, neben ihm zu wandern? Und was, wenn sie seinen Brief lesen würde? Wort für Wort. Immer wieder?“

Der Hörer stellt sich natürlich die Frage, wie wäre die Interpretation ausgefallen, hätte Joyce DiDonato sich das alles nicht vorgestellt, sondern wenn sie „einfach“ dem Weg einer klassischen Liedinterpretin gefolgt wäre? Etwa wie demjenigen der Lotte Lehmann, die der „Winterreise“ eine metaphysisch sublime Gültigkeit abgewann oder Christa Ludwig, die die“ Winterreise“ als Hohepriesterin lyrischer Verinnerlichung zelebrierte oder Brigitte Fassbaender, die den späten Schubert mit der schwarzen Tinte einer antiken Tragödin schrieb?

Joyce DiDonato erzählt mit der Winterreise die Geschichte des unglücklichen jungen Mannes (der als alter Ego des Komponisten wohl nie die Liebe einer Frau erfahren durfte) durch die Brille der offenbar mit schlechtem Gewissen Zurückweisenden. Darüber kann trefflich diskutiert werden, ich persönliche finde die bemühte Parallele zu Charlotte weit hergeholt.

Von der stimmlichen Bewältigung her ist DiDonatos „Winterreise“ ein rares Meisterstück. Ihr bisweilen ins Opernhafte gleitende Vortrag profitiert von spontan, frisch und kreatürlich wirkenden Empfindungen, die aus einer vollkommen empathisch schönen Seele geschöpft sind. Stimmlicher Wohlklang und ein samten gepflegtes Timbre herrschen vor, für die gesamte emotionale Bandbreite der Lieder steht DiDonato ein leuchtendes Bouquet an Stimmfarben zur Verfügung. Die kühle Perfektion der Belkantistin weicht hier einem beseelten, auch theatralisch durchaus effektvollen Einschlag.

Yannick Nézet-Séguin, der der Sängerin vor der Einlassung auf das Projekt mit auf den Weg gab, „sie müsse sich stark zu den Liedern berufen fühlen“, ist ihr ein hervorragender, den Klavierpart in Symbiose mit der Stimme gestaltender Partner. Hochdifferenziert und die dynamischen Ränder stärker auskostend als manche seiner Kollegen, wirkt auch seine Interpretation mehr auf eine konkrete Begebenheit und weniger als Gleichnis für den existenziellen Schmerz des Menschen an sich bezogen.

Fazit: Die vorliegende Neuerscheinung findet sicher einen würdigen Platz in der gigantischen Schubert-Diskographie. Joyce DiDonato müsste allerdings noch etwas von der Opernsängerin DiDonato abstrahieren, falls sie zum Gipfel des Olymps der Liedinterpretinnen vordringen will.

Kostprobe: https://www.youtube.com/watch?v=a8I5Gn3bVN0

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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