CD FRANZ SCHUBERT: DIE SCHÖNE MÜLLERIN – JULIAN PRÉGARDIEN, Kristian Bezuidenhout; harmonia mundi
„Die Verzierung ist mehr als nur eine Geschmacksfacette der Liedgestaltung. Sie verweist auf die ersten Interpreten der Lieder: auf Schubert und „seinen“ Sänger Johann Michael Vogl. Es ist mir besonders wichtig zu erwähnen, dass wir nicht die ersten sind, die dieser Idee folgen. Schon mein Vater Christoph hat mit seinen letzten Aufnahmen dieses „Tor zur Vergangenheit“ geöffnet.“ J. Prégardien
André Schuen, Daniel Hasselhorn, Konstantin Krimmel, aber auch die Tenöre Ian Bostridge, David Johannsen (in der Bearbeitung für Tenor & Streichquartett von Tom Randle) und Klaus Florian Vogt (in einer Bearbeitung für Tenor und Oktett von Andreas N. Tarkman), sie alle haben es getan. In den letzten Jahren Einspielungen von Schuberts Zyklus „Die schöne Müllerin“ vorgelegt, wobei die ersten drei großartigen Baritonstimmen bislang eindeutig den künstlerischen Lorbeer davontrugen. Achtung: Aber jetzt kommt Julian Prégardien und legt gemeinsam mit dem Pianisten Kristian Bezuidenhout am Fortepiano (Kopie von Christoph Kern nach einem Conrad Graf, Wien 1825) eine weitere Aufnahme vor, die in ihrer Kompromisslosigkeit Interesse verdient.
Natürlich war Julian schon im zarten Kindesalter durch die Proben des Vaters Christoph am heimischen Klavier mit dem Liedschaffen Schuberts konfrontiert. Auch Christoph Prégardien ist mit „Die schöne Müllerin“ noch zu hören. Und zwar in diesem Herbst, anlässlich einer Uraufführung am 6.10. in Nürnberg in einer Bearbeitung von Johannes Maria Staud mit dem Ensemble Kontraste.
Julian hat seinen ersten gesamten Zyklus erst vor über 10 Jahren gesungen. Als intensiv bezeichnet Prégardien seine Befassung mit „Die schöne Müllerin“ erst, als er 2020 mit Kristian Bezuidhenhout in einem halbszenischen Programm inkl. des Vortags von Passagen aus Wilhelm Müllers Tagebuch reüssierte. Im November 2023 ging man dann mit dem Zyklus ins SWR Funkstudio Stuttgart, wo die vorliegende Aufnahme entstand. Gefilmt wurde ebenfalls. Zu „Tränenregen“ siehe Link
Auch für den Konzertsaal lässt sich Julian Prégardien nicht zweimal bitten: Im August 2024 gastierte er mit Schuberts „Die schöne Müllerin“ und András Schiff am Hammerklavier bei den Salzburger Festspielen, am 8.11 dieses Jahres soll „Die schöne Müllerin“ in derselben Besetzung in der Londoner Wigmore Hall aufgeführt werden.
Was Legatokultur, Textdeutlichkeit, Verinnerlichung, die Kunst der Mikrophrasierung wie der gestochen klar vorgetragenen kleinen Verzierungen anlangt, ist Julian Prégardien tenoraler Lied-Weltmeister und auch im Mozart Opernfach allererste Wahl.
Was ist das Besondere an der neuen Aufnahme? Ganz klar ist hier neben der ausgefeilten, teils fiebrig glühenden Vortragskunst, der prononciert erzählerischen Gestik und des sterlingsilbern strahlenden Timbres des Julian Prégardien die Ornamentierung anzusprechen, die das Markenzeichen der Aufnahme ausmacht. Prégardien bezeichnet die Verzierung der Melodien als wichtigen Aspekt des Vortrags, als Teil des künstlerischen Handwerks, ähnlich wie die Wahl der Dynamik und des Tempos. Bezuidenhout ergänzt: „Ich denke, Verzierungen müssen so klingen, als ob einem das Herz vor einer Idee oder Emotion überquillt und man sich einfach nicht länger zurückhalten kann.“
Nicht alltäglich ist auch, dass Julian Prégardien die Inspiration zu seiner individuell-intimen Lesart weniger in anderen Aufnahmen bzw. der Sichtweise anderer Interpreten fand, sondern in den Tagebücher Wilhelm Müllers und im Hinblick auf den erbarmungswürdigen Gesundheitszustand Schuberts zur Zeit der Komposition
Hypnotisches und Gespenstisches sollen in dieser Aufnahme durchklingen. Prégardien und Bezuidenhout machen sich dazu Mittel der Deklamation sowie der rhythmisch freien Phrasierung zu Eigen. Auch geht es Prégardien hörbar nicht um den schönsten Klang, um seraphischen „Liedbelkanto“ gar. Schonungslose Expressivität, das Dichterwort, innere Hast und Getriebensein, am Ende das irrlichternde Bewusstsein von Endlichkeit und der Möglichkeit, dass jederzeit alles aus sein kann, bestimmen die Grundatmosphäre dieser Müllerin, die schon so viel einer „Winterreise“ an sich hat. Beim Zuhören kommt das Gefühl auf, dem Komponisten/dem nachschaffenden Sänger bei der schmerzlichen Erkundung seelischer Qualen durchsetzt von kurzen euphorischen Retrospektiven vor einem kleinen, auslesenden Freundeskreis zu lauschen. Und genau diese bestürzende Intimität und Offenlegung oftmals widerstreitender emotionaler Regungen ist es, die aus meiner Wahrnehmung so mancher Überverzierung zum Trotz am Ende überzeugt und das Publikum stumm zurücklässt.
Dr. Ingobert Waltenberger