CD FRANZ SCHUBERT „DIE LIEBE LIEBT DAS WANDERN“ – eine Hörbiographie von JÖRG HANDSTEIN; BR Klassik
Erstveröffentlichung von Schuberts Großer C-Dur Symphonie unter Herbert Blomstedt, live München 2010
“Die Sonne dünkt mich hier so kalt, die Blüte welk, das Leben alt, und was sie reden, leerer Schall, ich bin ein Fremdling überall” Georg Philipp Schmidt
BR Klassik ist für die Kreation hochwertiger Hörbiographien eminenter Komponisten bekannt. Händel, Mahler, Fanny & Felix Mendelssohn, Mozart, Schumann, Strauss, Tschaikovsky, Verdi, Wagner und Beethoven haben im Laufe der Jahre so ihre ganz eigenen Tonlichter in die Welt setzen können. Die jüngste Publikation gilt dem Leben und Wirken Franz Schuberts. Das erprobte Strickmuster geht so: Ein Erzähler liest den von in diesem Fall Jörg Handstein verfassten Text, unterlegt von ca. 130 (sehr kurzen im Booklet erläuterten) Musikbeispielen, die sich oft melodramatisch unter die Worte schieben. Das sorgt für Kurzweil. Die Lebensgeschichte Schuberts auf drei CDs mit 226 Minuten Spieldauer ist intensiv eingedampft, es geht also in jedem einzelnen Satz intensiv zur Sache. Was Konzentration abfordert. So nebenbei zu hören ist hier nicht. Aufgenommen wurde das Schubert-Porträt im September 2020.
Das Leben Schuberts wird in neun Kapiteln vor unseren Ohren in unzähligen biographischen Details ausgebreitet und kommentiert. Deren Titel sollen das Wesentliche des jeweiligen Lebensabschnitts widerspiegeln: Lebenstraum, Liederjahre, Jetzt lebe ich einmal, Störrisches Benehmen, Die Straße zum Erfolg, Die Sonne dünkt mich hier so kalt, Sommerreise, Nun wieder denn, nur weiter! und Rauschender Beifall.
Das Faktische und Anekdotische überwiegt, Bild an Bild reiht sich in schneller, bisweilen atemloser Abfolge. Das Leben Schuberts zieht wie aus einer Laterna Magica mit bunten Projektionen an uns vorbei, nicht immer scharf konturiert, aber doch sich zu einem Breitwand-Gesamtgemälde fügend. Die Person Schuberts bleibt in diesem großartigen Versuch einer Annäherung final jedoch seltsam im Ungefähren, umnebelt, wie eine unvollendete, nur in den Konturen sichtbare Statue.
Hineingeboren in das Wien von Kaiser Franz, ein Komponistenparadies, sind im Vergleich zu anderen Kollegen Schuberts Leben und Befindlichkeiten nur fragmentarisch nachvollziehbar, es gibt viele “Leerstellen”. Ersten Violinunterricht erhielt er von seinem Vater, Klavierstunden von Bruder Ignaz. Mit nur 1,57 cm Größe muss Schubert nicht zum Militärdienst. Mozart und Salieri sind die wohl prägendsten Musikerpersönlichkeiten. Von Mozarts Musik empfängt Schubert Abdrücke eines lichteren, helleren Lebens, ein Reich der Schönheit und des Glücks. Als bedeutendster Lehrer Schuberts darf wohl Antonio Salieri gelten.
Der wichtigste, romantisch verklärte Freund im Leben Schuberts wird Franz von Schober sein, bei dem Schubert auch eine geraume Zeit wohnt. Schobers Rolle in Schuberts Leben wird unterschiedlich beurteilt, wohl aber sind die Kontakte, wie derjenige zum berühmten Sänger Michael Vogel, wesentlich für die erste Rezeption von Schuberts Liedern. Schubert könnte als Tanzmusiker viel Geld verdienen. Der Komponist aber strebt nach Höherem, er sucht seinen Weg. “Beethovens Hang zum Konflikt ist Schubert Sache nicht, er will Harmonie und weiß doch, dass es sie nicht gibt.”
Im heute ungarischen Zseliz hat Franz Schubert, für vorerst vier Monate vom Grafen Johann Karl Esterházy als Lehrer für die beiden Töchter Marie und Caroline (in die 19-jährige wird er sich später beim 4-händigen Klavierspiel unsterblich verlieben) engagiert, zwischendurch einen gut bezahlten Unterrichtsjob. Eine freudige Abwechslung zum mühsamen Gehilfenjob in der Schule des Vaters, fern den verhassten “Bonzen” der katholischen Kirche. Dort trifft er auch auf den Tenor-Bariton Carl Freiherr von Schönstein, den zweiten gewichtigen Interpreten, der seine Lieder in die Welt trägt.
Die repressive Politik der Zeit, die Zensur mischt sich mit manch scharfer Kralle in die freiheitsliebende Freundesschar, die sich auch als autoritätsverachtende “Unsinnsgesellschaft” formierte. Der Tiroler Dichter und Student Johann Senn wird im Beisein und unter Protest Schuberts verhaftet und kommt in Untersuchungshaft. Franz haust da zwei Jahre lang in einem heruntergekommenen Zimmer in der Wipplinger Straße mit dem genialen Dichter Johann Mayrhofer zusammen, dessen großartige Texte Schubert wohl zu den bewegendsten melodischen Einfällen inspiriert haben. Der “kloane Racker” liefert sich in der WG mit dem als Bücherrevisor des Metternich Regimes sein Leben verdienenden Dichter wohl so manches Wortgefecht.
Als Musiker bleibt Schubert lange mehrheitlich auf private Räume beschränkt, kein Verlag will seine Lieder, vielversprechende Skizzen bleiben im aussichtslosen Wettkampf mit Beethovens Erbe unvollendet liegen. Die Uraufführung der Posse mit Gesang “Die Zwillingsbrüder” (das neunte Bühnenwerk Schuberts) im Kärntnertortheater mit Michael Vogel bringt endlich einen ersten öffentlichen und finanziellen Erfolg. Mit 24 Jahren gelingt es Schubert so, ein eigenes Zimmer zu mieten, massiv getrübt durch Mayrhofers Selbstmord und der Verheiratung der Jugendliebe Therese Grob mit einem Bäcker.
Von biedermeierlicher Gemütlichkeit brummt der Sommer 1821, die Schubert mit seinem Librettisten Schober in St. Pölten verbringt. Die große romantische durchkomponierte Oper “Alfonso und Estrella” entsteht. Die “Unvollendete” sowie die Wandererfantasie als “Spiegel der Tiefe des Tonsetzers“ folgen.
Private Tragödien, vor allem der große Albtraum, die Erkrankung Schuberts an der Syphilis, werden in keinem Details ausgespart. Er wird in Wien im Allgemeinen Krankenhaus behandelt, während “die existenzielle Reise in Traum und Tod”, der Lieder-Zyklus “Die Schöne Müllerin” und die Oper “Fierrabras” entstehen. Symptome und Therapiemaßnahmen werden zwar verschwiegen. Ein Ausschlag auf der Kopfhaut samt Geschwüren wecken jedoch den Verdacht auf Syphilis. Damals wurde diese Krankheit mit Quecksilbereinreibungen samt grausigsten Nebenwirkungen behandelt. Ein enormer Speichelfluss soll die Krankheit herausspülen. Der Patient darf wochenlang nicht aus seinem hochgeheizten Zimmer heraus und während dieser Zeit auch die Wäsche nicht wechseln!. Zum dritten Stadium der Krankheit, einer progressiven Paralyse, muss es mit solchen Quecksilbereinreibungen erst gar nicht kommen.
1823 scheint der erste Schub der Krankheit vorbei. Schubert kann seine Perücke ablegen, ein lieblicher Schneckerlanflug zeigt sich. In einer manischen Schaffensphase entstehen Streichquartette und Lieder. Zeit und Raum ist erfüllt von Musik. Die Opernentwürfe werden jedoch abgelehnt und die Krankheit kehrt zurück. Unter dem Motto “Schmerz schärfe den Verstand und stärke den Geist” entsteht das Quartett “Der Tod und das Mädchen”. Schubert steht jetzt endlich auf Augenhöhe mit Beethoven, schließt Handstein völlig zu Recht.
Den Sommer 1825 verbringt Schubert in Gmunden beim reichen Kunstmäzen Ferdinand Traweger. Dort und in Gastein entsteht die Große C-Dur Symphonie, sein wohl gewichtigstes Werk, inspiriert von Schuberts erster aufregender Begegnung mit den wunderlichen Formen und Anmutungen der Bergwelt. Verdient hat Schubert zu dieser Zeit kaum etwas, die in Aussicht gestellte Aufführung im Musikverein findet wegen der Länge und Schwierigkeit des Werks nicht statt. Die Verlage zahlen nichts für Schuberts geniale Partituren, die für den zeitgenössischen Geschmack viel zu anspruchsvoll und innovativ sind. Ein neues Opernprojekt “Der Graf von Gleichen” mit einem von der Zensur verbotenen Libretto seines jüngsten Freundes Eduard von Bauernfeld sollte nie fertig gestellt werden.
Joseph von Spaun berichtet von der Entstehung eines Zyklus’ schauerlicher Lieder. “Die Winterreise” spiegelt neben der autobiographischen Gemütslage auch eine klare und harte Realität. “Das eisige Klima von Metternichs Regime, das Unbehagen der Denkenden, die trostlose Behaglichkeit der Angepassten.” Mit dem letzten Lied “Der Leiermann” erlischt die letzte Illusion. “Dem Leben ward die Rosenfarbe abgestreift.”
1828, dem Todesjahr Schuberts, ist das neunte Kapitel gewidmet. Die Karriere kommt in Gang, die mediale Präsenz wächst, im Wiener Musikalienhandel ist der 31-jährige endlich eine Größe. Schott in Mainz und Probst (Kistner) in Leipzig umwerben ihn plötzlich. Bis 19. November wird er noch Zeit haben. Noch einmal wird Schubert für eine bis heute gültige und unumstößliche Qualität in der Kammermusik sorgen, die Schubert in Deutschland zum Star machte. Nur Wien, im ‚freislichen‘ Paganini-Fieber befangen, will kaum Notiz für Schuberts grandiose Endphase nehmen. Der Komponiersommer 1828 wird ein besonders fruchtbarer werden: Die Es-Dur Messe, die letzten drei Klaviersonaten, Heine-Lieder, das Streichquintett D 956. Musik für die Ewigkeit, herangeweht aus der Zukunft.‘
Im September begann Franz letztmalig zu kränkeln. Im Oktober geht’s noch einmal mit seinem Bruder an das Grab von Joseph Haydn. Am 12. 11. gibt er ein Lebenszeichen an Schober. Seit elf Tagen hat er nun nichts mehr gegessen und getrunken. Er verschlingt noch die Bücher von Cooper und hört Beethovens cis-Moll Quartett. Am 17.11. konstatiert sein Bruder Ferdinand stark ansteigendes Fieber, am nächsten Tag fantasiert Schubert. Am 19.11. stirbt er. Schubert will und wird neben Beethoven begraben werden, der Bestatter sorgt für eine ‚schöne Leich’.
Udo Wachtveitl leiht dem Erzähler seine ruhig sonore Stimme, die feinen Details in Modulation und Sprachmelodie tragen wesentlich zur Spannung und damit Gelingen des Albums bei. Der Kärntner Robert Stadlober als Schubert wirkt im Ton ruppig und verbittert, süßen Weltschmerz und Humor sind Facetten , die in dieser Sichtweise nicht zum Zug kommen. Zitaten leihen Thomas Albus, Christian Baumann, Thomas Birnstiel, Beate Himmelstoß, Florian von Manteuffel, Johannes Silberschneider und Hans Jürgen Stockerl ihre charaktervollen Stimmen.
Auf CD 4 wird ein bisher unveröffentlichter Schatz aus den Archiven des Bayerischen Rundfunks als Bonus zugänglich gemacht: Die Lesart der Symphonie Nr. 8 in C-Dur D 944 unter der musikalischen Leitung von Herbert Blomstedt, live aufgenommen in München im Herkulessaal der Residenz am 20./21. Mai 2010, natürlich mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, ist nichts weniger als exemplarisch und maßstabsetzend in der gigantischen Schubert-Diskographie. Voller Weisheit, rätselhaft, unergründlich, von tiefster und erhabenster Schönheit wie die besten Interpretationen von Günter Wand. Nach der aufwühlenden Hörbiographie schlicht und einfach atemberaubend.
Dr. Ingobert Waltenberger