CD FRANZ LISZT ANNÉES DE PÉLÉRINAGE – ROGER MURARO; alpha
“But where of ye, O tempests! is the goal? / Are ye like those within the human breast? / Or do ye find, at length, like eagles, some high nest?” aus Lord Byrons „Harold’s Pilgrimage“
Wer Liszt aus der Falle des Klischees des tastenwütenden Berserkers befreien und in aller kompositorischen, stilistischen und poetische Vielfalt erleben möchte, wird an dem Klavierzyklus „Années de Pélérinage“ nicht vorbeikommen. Vom 24.Lebensjahr an bis ins Alter (1835 bis 1877) sollte der Entstehungsprozess der insgesamt 24 Stücke/Stationen dauern. Sie sind in drei Pilgerjahre aufgeteilt und führen von der Schweiz nach Italien. Liszt erschließt seinen Pilgerweg nicht nur mit Bahn, Bus oder Schiff, sondern er stürzt sich auch in die klangliche Betrachtung von bildender Kunst, Architektur oder Dichtung.
Von letzterer stammen die Gedanken der Bildung von Auge, Herz, Gemüt bzw. von der Förderung von Kreativität durch das Reisen an sich, wie sie im Kern in Goethes Entwicklungsroman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ belletristisch-philosophisch ausformuliert Liszt bewegten. Natürlich konkretisiert Liszt Orte, Erlebnisse und Begebenheiten (vgl. „Orage“/Sturm) lautmalerisch, von Programmmusik im engeren Sinne ist aber nicht zu sprechen. In Wirklichkeit handelt es sich bei diesem Zyklus um experimentelle Übungen in Sachen Romantik, auf der ewigen Suche nach einem unerreichbaren Ideal.
Erstaunlich ist an dem Zyklus nicht nur die atmosphärische Vielfalt, die sich in der Schweizer Pilgerfahrt mit Titeln wie „Chapelle de Guillaume Tell“, „Au lac de Wallenstein“, „Pastorale“, „Le mal du pays“ oder „Les cloches de Genève“ manifestiert, sondern auch die Tatsache, dass und wie Liszt im Laufe der Jahre die Art des Komponierens änderte. Von der Virtuosität des Tastentigers ist im dritten Band (der zehn Jahre nach dem zweiten entstanden ist) kaum noch etwas zu finden.
Was will ich, wer bin ich, wohin gehe ich, wie stehe ich in und zu der Natur, zur Kunst? In Liszts zweitem Jahr, das uns nach Florenz führt (Il Penseroso/Der Nachdenkliche mit Blick auf die Statue Michelangelos in der Medici-Kapelle), aber ebenso das Ohr für Betrachtungen von Raffaels Gemälde „Vermählung Mariä“ („Sposalizio“) mit zartesten Lyrismen schärft, wartet Liszt im Hauptteil mit der Bearbeitung der Lieder Tre Sonetti del Petrarca für Klavier solo sowie der Fantasie „Après une lecture de Dante“ (Inferno aus Dantes „Göttlicher Komödie“) auf.
Der französische Pianist Roger Muraro, der sich um die Klaviermusik des 20. Jahrhunderts besonders verdient gemacht hat (Stichwort Olivier Messiaen), betont in seiner Interpretation das Intime, das Liedhafte, das im komplex-harmonischen Hingebungsvolle in Liszts Wunderreich der Klangfarben und seiner musikalischen Licht-Schattenspiele. Den Höhepunkt des Albums bilden die drei Sonette del Petrarca 47, 104 und 123, Erkundungen des Innersten und Geheimnisvollsten unseres Seins. Die Tempi sind stets mit Bedacht gewählt und geben der Musik die nötige Zeit, um den musikalischen Gedanken Raum zu geben.
Aufmerksam erlauscht, findet Muraro zu den drei Ergänzungstücken zum zweiten Jahr ‚Gondoliera‘, ‚Canzone‘ (nach dem Gondellied ‚Nessun maggior dolore‘ aus Rossinis „Otello“) und ‚Tarantella‘, unter der Überschrift „Venezia e Napoli“ folgenden Vergleich: „Der späte Liszt erinnert sich an die Zeit, als die Damen in Verzückung gerieten, wenn sie ihn spielen sahen und die anderen Pianisten seiner Zeit eifersüchtig auf ihn waren.“ So aufgefasst, erfahren diese leichtfüßigen Tänze eine Brechung durch einen sanft wehenden Schleier jenseits aller Sentimentalität. Muraro lässt diese Stücke in gedeckteren Farben leuchten als üblich. Beim „Nachdenklichen“ dreht sich alles gefühlt um eine Achse. Komponist wie Interpret ergehen sich dabei in unaufgeregten Reflexionen, während die „Canzonetta del Salvator Rosa“ hoffnungsfrohere Lebensgeister weckt.
Für den Beginn des dritten Heftes hat Muraro beim „Angelus“ die Version mit Harmonium gewählt. Dieses zarte Gebet zu den Schutzengeln ist Liszts Enkelin Daniela von Bülow gewidmet und gewinnt mit dem Klang des Instruments laut Muraro den Charakter einer Prélude. Hierauf lässt Liszt Muraro eingehend die weitläufige Villa d’Este in Rom mit ihren berühmten Wasserspielen studieren, bevor der Zyklus mit „Sunt lacrymae rerum“ (en mode hongrois), einer „Marche funèbre“ in Erinnerung an Kaiser von Mexiko Maximilian I. und „Sursum corda“ ausklingt. Dieses „Erhebet eure Herzen“ – benannt nach eine katholischen Gebetbuch – berührt in der gestalterischen Noblesse des Roger Muraro ungemein.
Fazit: Eine introvertierte, grandios freidichterische, abgeklärte Lesart. Im Grunde überwiegen impressionistische Farben und meditative Verinnerlichung. Bei der 18-minütigen Fantasia quasi sonata „Après une lecture de Dante“ ist Muraro hingegen als gewiefter Klangdramaturg und tiefschürfender Virtuose zu erleben. Künstlerische Reife abseits jeglicher Effekthascherei.
Dr. Ingobert Waltenberger