Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD FRANÇOIS-ANDRÉ DANICAN PHILIDOR: ERNELINDE, PRINCESSE DE NORWÉGE – Tragédie en musique – Version 1769; Château de Versailles Spectacles

21.04.2025 | cd

CD FRANÇOIS-ANDRÉ DANICAN PHILIDOR: ERNELINDE, PRINCESSE DE NORWÉGE – Tragédie en musique – Version 1769; Château de Versailles Spectacles

Raritätensammler aufgepasst – Weltersteinspielung mit Animo und Pfiff

erng

1767 an der Pariser Académie royale de musique uraufgeführt, verweist die Dreiaktigkeit der Oper ohne Prolog, das „exotische Sujet“ sowie die reißerische Gangart eindeutig auf Italienisches. So stützte sich der Librettist Antoine-Alexandre-Henri Poinsinet auf des Venezianers Giovanni Battista Ferradinis Oper „Ricimero, re die Goti“ nach Francesco Silvanis Stück „La fede tradita e vendicata“. Nach der Premiere 1767 sollten drei weitere Aufführungsserien, jeweils überarbeitet, in Paris und Versailles folgen, wobei sich die Schwerpunkte von der Liebesgeschichte stets ein wenig mehr in Richtung idealisierter Gefühle wie Patriotismus, Heroik, kurz und gut dem Kampf um Freiheit und Gleichheit bewegten.

Die im Vergleich zu anderen zeitgenössischen französischen Opern ungestümere Gestik und schnörkelsparsamere Verknappung ist deutlich Philidors Bewunderung für den Opernreformer C. W. Gluck und dessen 1762 in Wien uraufgeführte Oper „Orfeo ed Euridice“ zu verdanken. Ausgewählte Themen daraus werden in der waldhornbrausenden Ouvertüre und dem die Oper eröffnenden dramatischen Duett ‚Ernelinde-Rodoald‘ quasi „wörtlich“ zitiert.

Überhaupt war dieser François-André Danican Philidor eine interessante Persönlichkeit. Nicht nur musikalisches Wunderkind, erlangte Philidor vor allem Ruhm als bester Schachspieler seiner Zeit und Vordenker des modernen Schachs, der auch die theoretischen Grundlagen des Positionsspiels skizzierte. Er pflegte eine enge Freundschaft zu Diderot, schrieb in Paris von 1759 bis 1765 elf Opern, darunter seine berühmteste Opéra-comique „Tom Jones“ sowie ein „Requiem“ zum zweiten Todestag von Jean Philippe Rameau.

„Ernelinde, princesse de Norwège“ ist in jeglicher Hinsicht erstaunlich eigenständig und weist wenige stilistische Ähnlichkeiten mit den zeitgleich oder kurz zuvor entstandenen Tragédies lyriques auf. Stattdessen sind, was die im Spannungsfeld von zärtlicher Liebe, antikischer Tragik, unauflöslichen Konflikten und heroischem Duktus sich bewegende musikalische Sprache und die elementare Kraft der Arien anlangt, durchaus Parallelen zum 1781 uraufgeführten „Idomeneo“ von Mozart auszumachen. Eine in ihrem Handeln idealisierte Herrscherfigur und die überaus mutige, nur ihrem Inneren gehorchende weibliche Hauptfigur bilden die eherne Achse, an der sich der skrupellose Widersacher Ricimer die Zähne ausbeißt und tödlich scheitert. Gefühle lassen sich nun mal nicht erzwungen.

In der Oper geht es um eine mittelalterliche nordische Saga über die politisch bestimmende Macht in Norwegen, Schweden und Dänemark. Der Konflikt entzündet sich an der norwegischen Prinzessin Ernelinde, an der sowohl Ricimer, König der Goten als auch Sandomir, Prinz von Dänemark, interessiert sind. Ernelinde, deren Vater, der norwegische König Rodoald, ob der machtpolitischen Divergenzen über die von der Tochter gewünschte Verbindung nicht begeistert ist, präferiert Sandomir. Als Ricimer selbst gewaltsam auf die Verbindung mit Ernelinde besteht und als Druckmittel Rodoald als auch Sandomir gefangen nimmt, verkündet Ernelinde, dass sie den gemeinschaftlichen Tod mit ihrem Geliebten einer Ehe mit dem Brechstangentypen Ricimer vorzieht. Als König Rodoald die existenzbedrohende politische wie private Situation durch Rückeroberung seines Landes löst, begeht Ricimer Selbstmord.

Formal geht Philidors „Ernelinde“ eigene Wege: Statt auf die üblichen Verzierungszeichen etwa Rameaus zu setzen, notiert Philidor Verzierungen wie Tremblements, Ports de voix und Sanglots in Bezug auf Dauer, Tonhöhe und Stimmcharakter minutiös aus. Wie Benoît Dratwicki dazu anmerkt, erfolgte diese künstlerische Entscheidung keineswegs zufällig, sondern bildete „einen großen Schritt, um den italienischen Belcanto in Frankreich zu assimilieren, der sich allerdings erst Anfang des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte.“

Was die Art der Deklamation der Rezitative anlangte, so zeigt sich, dass „die rhythmische Notation und die Prosodie, die sich in der Tradition von Lully und Rameau auf den starken Taktteil konzentrieren, Sänger zu einer gewissen Emphase zwingen.“ Statt eines italienischen Recitativo secco pflegte man in Frankreich ab 1760 ausdruckssteigernd eine instrumentale Akkord-Begleitgruppe („petit choeur“) einzusetzen, die sich aus einem Cembalo, einigen Celli und einem Kontrabass zusammensetzte. Dieses musikhistorische Faktum wurde auch bei der vorliegenden Aufnahme angewandt. Eine weitere Besonderheit betrifft die Platzierung der jeweils vier Oboen und Fagotte, die der Klangfarben wegen um die Streicher gruppiert wurden.  

Eine wesentliche Vorbedingung betreffend das Gelingen einer packenden musikalischen Umsetzung besteht in der stimmtypengerechten Besetzung der vier Hauptpartien. Vor allem die Figur der Ernelinde braucht eine deklamatorisch gewandte wie expressive Sängerin mit einem individuell zu Herzen gehenden Timbre. Der dänische König Sandomir sollte einem Haute-Contre anvertraut sein, der nach dem Vorbild von Joseph Legros „ein tapferer und zugleich zärtlicher Sänger, gleichermaßen von Heroismus und Lyrik durchdrungen“, sein sollte. Für Rodoald und Ricimer sind kernig-flexible lyrische Bariton- bzw. Bassstimmen von Vorteil.

Tatsächlich entsprechen die in der Aufnahme zu hörenden vorzüglichen Interpreten Judith van Wanroij (Ernelinde), Reinoud van Mechelen (Sandomir), Thomas Dolié (Rodoald) sowie Matthieu Lécroart (Ricimer) punktgenau diesen Vorgaben, um dieser moralisierenden Geschichte mit Happy Ende einer unumstößlichen Liebe in Zeiten politischer Tyrannei glaubhaft zum Leben zu erwecken. In kleineren Rollen reüssieren Jehanne Amzal, Martin Barigault und Clément Debieuvre

Zur Fassung: Da die vorliegende Aufnahme ein Konzert wieder spiegeln will, wurde auf etliche Tänze/Orchestersuiten der aufeinander folgenden Versionen verzichtet.

Wie schon bei den Opern-Alben Egidio Romualdo Dunis „Le Peintre amoureux de son modèle“ und André Modeste Gretrys „Raoul Barbe Bleue“ erweisen sich der Dirigent Martin Wåhlberg und sein norwegisches Orkester Nord wiederum als absolute Glücksfälle. Zudem fügen sich die Vokalensembles Les Chantes du Centre de musique baroque de Versailles und Vox Nidrosiensis Wåhlbergs untrüglichem Gespür für die gefühlsbetonte Drastik des „Sturm und Drang“, für die verschiedenen emotionalen Stränge und glühende Dramatik dieser Rettungsoper (im dritten, in einem Verlies spielenden Akt lässt schon „Fidelio“ grüßen). Die Interpretation wirkt in ihrer Gesamtheit wie aus einem Guss und spiegelt sich in einem musikalischen Thriller sondergleichen wider.

Tipp: Am 27. Mai 2025 wird die Oper in derselben Besetzung an der Opéra Royal de Versailles aufgeführt.

Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken