CD FRANCESCO GASPARINI: ATALIA – Oratorium nach der Tragödie „Athalie“ von Racine – Weltersteinspielung; Château de Versailles Spectacles
Der in der Hochblüte seiner Schaffenskraft vor allem in Venedig tätige Francesco Gasparini wird immer mehr von Plattenlabels und neugierigen Interpreten von Barockmusik entdeckt. So hat kürzlich Sophie Junker in ihrem neuesten Album „La Serenissima“ eine Arie dieses Komponisten ins Programm genommen. Bei Glossa sind bereits zwei exklusiv nur Opernarien von F. Gasparini gewidmete Alben erschienen; eines mit dem Countertenor Filippo Mineccia, eines mit der Mezzosopranistin Roberta Invernizzi. Nicht zuletzt hat Countertenor Max Emanuel Cencic auf seinem Album „Venezia“ bereits 2013 eine Arie aus Gasparinis Oper „Flavio Anicio Olibrio“ vorgestellt.
Der in Lucca geborene Francesco war Ende des 17. Jahrhunderts in Rom Schüler von Alessandro Scarlatti und Arcangelo Corelli, bevor er 1701 als Chormeister des Ospedale della Pietà nach Venedig ging. Zwölf Jahre sollte er in Venedig bleiben und in allen Sparten von Kantaten, Opern bis zu Oratorien reüssieren. Als angesehener Theoretiker („L’armonico pratico al cimbalo“) und Pädagoge (u.a. studierten Domenico Scarlatti und Benedetto Marcello bei ihm) war er auch in Rom willkommen, wo Gasparini in den Diensten der Fürsten Francesco Maria Ruspoli und Marcantonio Borghese weiterhin als Gesangsvirtuose und musikschöpferisch tätig war. Die letzten drei Lebensjahre bis zu seinem Tod 1727 wirkte Gasparini als Kapellmeister von San Giovanni in Laterano. Ca. 60 Opern hat Gasparini geschrieben, als erfolgreichste aller gilt „Ambleto“.
Das Oratorium „Atalia“ nimmt deshalb eine Sonderstellung ein, weil es das erste französische Theaterstück gewesen sein soll, das als musikdramatische Vorlage für ein Werk in italienischer Sprache diente. Jean Racines letzte Tragödie „Athalie“ wurde 1691 im Collège de Saint-Cyr uraufgeführt.
Gasparinis 1692 im römischen Collegio Clementino gespieltes Oratorium in zwei Teilen besteht aus 24 Nummern. Es erzählt die Geschichte der macht- und rachebesessenen Atalia, die ihre gesamte Familie, darunter ihren Sohn Ochozia, König von Judäa, wegen ihres eigenen Anspruchs auf den Thron Jerusalems, töten ließ. Der Massakrierung konnte nur der kleine Joas entkommen. Einige Jahre wurde der kleine Spross im Tempel vom Hohepriester Joaida versteckt.
Das Oratorium beginnt damit, dass Atalia Ormando dazu anstacheln will, den Hohepriester umzubringen. Als er sich weigert, will sie diejenigen selbst vernichten, die sich ihrem Willen widersetzen. Ormando scheint einzulenken, als er vorgibt, den alten Priester beseitigen zu wollen, wenn Atalias Herz dadurch zur Ruhe kommt. In Wahrheit beschließt er gemeinsam mit dem Hohepriester, den kleinen Joas auf den Thron zu heben.
Im zweiten Teil kündet die Amme der grausamen Atalia, dass sie für die besiegte Furie die Tore zur Unterwelt öffnen werde. Auf die Drohung Atalias, die Dienerin mit brennenden Fackeln foltern zu wollen, antwortet diese: „Wer an Gott glaubt, lacht über den Zorn eines verzweifelten Herzens.“ Als Atalia den königlichen Knaben auf dem Thron sieht, merkt sie, das Spiel ist aus. Die von Schreckgespinsten heimgesuchte Atalia wird auf Befehl des Priesters gemeuchelt. Ob allerdings die Moral von der Geschichte (Schlusschor: „O wundersame Vorsehung folgend einem glücklichen Lauf, gekrönt, lässt du die Unschuld herrschen und triumphieren“) so unbedingt aus dem Leben gegriffen ist, sei dahingestellt.
Der Aufnahme liegt eine erstmals editierte handschriftliche Partitur aus Dresden zugrunde. Der Instrumentalpart ist Violinen, Bratschen, Celli und einem basso continuo (Cello, Kontrabass, Théorbe, Cembalo, Orgel, Harfe), ergänzt um zwei Trompeten, anvertraut.
Emmanuel Resche-Caserta, musikalische Leitung und Violinsoli, und seinem Ensemble Hemiola gelingt eine reizvolle, den ganzen Zauber der Musik im Konflikt von Gut und Böse verinnerlichende Aufführung. Die rezitativisch wortausdeutenden Vokalparts mit ihren virtuosen Arien werden entweder vom Orchester oder vom b.c. begleitet. Kurze instrumentale Ritornelle setzen die Affekte der Protagonisten atmosphärisch expressiv gedeutet fort.
Dem Oratorium ist als ‚Sinfonia‘ Arcangelo Corellis Concerto grosso Nr. 5, Op. 6 vorangestellt. Die von der Klangqualität der Stimmen und Stilistik her erstklassige Besetzung wird von der französischen Sopranistin Camille Poul, die mit herbem Timbre und wütenden Verzierungen das usurpatorische Monster Atalia verkörpert, angeführt. Der junge lyrische Tenor Bastien Rimondi gestaltet mit ansprechend purem Timbre den um Gerechtigkeit kämpfenden, staatstragenden Milizen Ormano. Die Kontraaltistin Mélodie Ruvio ist die aufmüpfige, sich todesmutig der Königin entgegenstellende Nouricce von Joas und der fulminante italienische Bariton Furio Zanasi fügt mit den Grand Prêtre eine weitere Glanzrolle seinem beeindruckenden Repertoire hinzu.
Wer die Opern Monteverdis, Cavallis oder A. Scarlattis schätzt, wird auch an diesem, in der Kompositionsweise grundsätzlich daran anknüpfenden, aber vor allem instrumental und von den Affekten her ein neues Zeitalter ankündigendes Oratorium seine helle Freude haben.
Dr. Ingobert Waltenberger