CD „Flute Tales“ – Die Flötistin Olga Reiser erkundet die Möglichkeiten ihres Instruments in alten und neuen Kompositionen
Mit der Flötisten Olga Reiser geht es hoch hinaus. Das allein schon bringt die Tonlage einer solistischen Querflöte mit sich. Aber die in Wiesbaden lebende, aus Russland stammende Flötistin erhebt sich auf ihrer ersten Solo-CD auch souverän über die Grenzen von Konventionen, Genres und auch Zeitaltern. So kommt auf Olga Reisers erster Solo-CD auch viel Neues zur Entfaltung, was auf diesem Holzblasinstrument geht.
Gerade bei der Flöte wird oft vom „Singen auf dem Instrument“ geredet. Es geht aber ebenso um ein „sprechendes“ Musizierideal und gerade mit solchen Qualitäten macht Olga Reiser dem gewählten Titel ihres Soloprogramms „Flute Tales“, also „Flöten-Geschichten“ alle Ehre.
Schon der erste Teil dieser Aufnahme zeugt von einer souverlänen Stilsicherheit, mit der Olga Reiser drei verschiedene Kompositionen zu einem konsistenten Bogen vereint, als wäre all dies in einem durchkomponiert. Claude Debussys Tondichtung „Syrinx“ ist ein imaginäres Liebesdrama, wo es um Verführung geht. Mit artikulatorischer Brillanz schwingt sich Olga Reisers Spiel zu maximaler Darstellungslust auf. Ihr Spiel ist druckvoll, sinnlich und farbenreich, aber auch perkussiv. Etwas rezitativischer setzt die „Image“ von Eugène Bozza diesen musikalischen „Theatermonolog“ fort, gefolgt von Arthur Honeggers „Danses de la Chevre“.
Zu Olga Reisers umfänglicher künstlerischer Visitenkarte wird diese CD „Flute Tales“ durch ihre Vielschichtigkeit. Auch wenn Olga Reiser das Spektrum in Richtung 19. Jahrhundert ausweitet, bleiben Experimentierlust und spontane Vitalität in ihrem Spiel ganz oben. Vor allem, wenn nichts geringeres als ein kühnes Arrangement für Flöte der 24. Violin-Caprice von Niccolo Paganini auf der Agenda steht. Diese virtuosen Variationen wirken in ihrer Agogik und dynamischer Klanggestaltung so, als würde Olga Reiser all dies selbst frei improvisieren.
Schnell geht es wieder in die musikalische Gegenwart, denn da geben so viele Komponisten mit frischen Ideen der sprühenden Musizierlust dieser Interpretin endlos Futter: „Wake up“ nennt sich eine Studie von Tilmann Dehnhard, in der dieser Gegenwartskomponist einen schnöde piepsenden Digitalwecker zum künstlerischen Material werden lässt. Auch wenn dieses Weckergepiepse latent an die Schmerzgrenze geht: Olga Reiser hält mit einem sanftmütig-sonnigen, Spielgestus dagegen, was dafür sorgt, dass das Menschliche doch über jede Maschine die Oberhand behält.
„The Great Train Race“ for Solo Flute setzt auf die lautmalerische Dramaturgie einer sich beschleunigenden Dampflokomotive. Die Vortragsbezeichnung „Accellerando“ bringt hier alles auf den Punkt. Olga Reiser macht auf ihrer Flöte noch mehr draus, greift alle Zisch- und Pfeifgeräusche auf, die ein solches Ungetüm freisetzt. Singen und Flöte spielen, sprechen und Flöte spielen, ja auch Beatboxing und Flötespielen können miteinander eins werden, wenn man es kann. Olga Reiser hat all dies drauf – allein aus dem Mund heraus perkussive Gesten zu erzeugen und dies mit Akkordbrechungen und kunstvollen Harmonieverschiebungen auf dem Instrument zu synchronisieren.
Elektronische Loopgeräte bieten wunderbare Möglichkeiten für Solistinnen und Solisten, ihr eigenes Ensemble mit sich selbst zu bilden. Olga Reiser nimmt es hier mit einer gewichtigen Materie auf: Ein Menuett von Johann Sebastian Bach wird in einer Bearbeitung für Sopran- und Altflöte plus Loop-Station zu etwas Größerem. Als Basis liegt eine feinziselierte kanonische Begleitstruktur zu Grunde, welche sich immer mehrspuriger und umfassender ausbreitet. Eine weitgespannte, solistische Melodie strebt himmelwärts, bevor sie in eine coole Beatbox-Linie mündet. Johann Sebastian Bachs polyphone Tonarchitektur kommt wie gerufen für solche kreativen Erweiterungen – und womöglich wäre Bach selbst – immerhin der für das Abendland wohl einflussreichste Komponist -von solchen modernen Abenteuern hellauf begeistert!
Stefan Pieper
Olga Reiser: Flute Tales , solo musica 2021