CD FERRUCCIO BUSONI: Berceuse élégiaque, MAX REGER: Violinkonzert – GRUPPO MONTEBELLO; Et‘Cetera
Verein für musikalische Privataufführungen Vol. 7, Arrangements für Kammerensemble von Henk Guittart
Mit und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzogen sich radikale Veränderungen in Gesellschaft, Wissenschaft, Technik und Kunst, nicht zuletzt in der klassischen Musik. Manche der damals entstandenen Werke von Schoenberg bis Berg, von Webern bis Zemlinsky oder Reger gelten auch heute noch als avantgardistisch und in ihrer experimentellen Ausrichtung als schwere Kost.
Da in öffentlichen Konzerten in Wien das neue Musikschaffen etwa der Zweiten Wiener Schule oder der Expressionisten auf teils erbitterten Widerstand des Publikums stieß, war es für Arnold Schoenberg Zeit, über neue Formen der Musikvermittlung nachzudenken. Auslöser war das Skandalkonzert vom 31. März 1913 im Wiener Musikverein, wo sogar Watschen geflogen sein sollen. Wenn etwa Oscar Straus den damaligen Abend mit den Worten „Das Klatschen der Ohrfeigen war noch das Melodiöseste, das man an diesem Abend zu hören bekam“, beschrieb, so ist über die aufgeheizte Stimmung alles gesagt.
Also gründete man einen Verein, der wöchentlich Konzerte ohne Bekanntgabe der Programme ausschließlich für dessen Mitglieder veranstaltete. Applaus war ebenso wenig erwünscht wie die Presse. Ästhetischer Bahöl bzw. politische Ressentiments hatten ebenfalls außen vor zu bleiben. Geprobt wurde wie der Teufel, intensiv, kompromisslos in „Klarheit und Präzision“. Gespielt wurde Musik u.a. von Reger, Debussy, Ravel, Satie, Bartók, Kodály, Webern, Zemlinsky, Mahler, R. Strauss, Busoni, Schreker, Skrjabin, Korngold, Pfitzner, Mussorgski und Szymanovski. Der Verein war von 1918 bis 1921 aktiv, als die Wirtschaftskrise die Finanzierung solcher exklusiver Musikinterpretationen nicht mehr erlaubte.
Der niederländische Musiker Henk Guittart, legendärer Gründer des Schoenberg Ensembles (1974), und 33 Jahre lang als Bratschist im Schoenberg Quartett bis zu dessen Auflösung 2009 tätig, hält mit seinen Forschungen zum „Verein“, der Aufführung und Einspielung von deren Programmen, aber auch der eigenständigen Bearbeitung etwa der hier aufgeführten zwei Werke von Busoni und Reger dieses musikalische Erbe lebendig. Mit dem Gruppo Montebello hat Guittart bislang sieben Alben iZm dem Verein für musikalische Privataufführungen eingespielt, eines besser als das andere. Vol. 7 bildet den Schlussstein des gesamten Projekts.
Das Hauptaugenmerk des Albums liegt eindeutig auf dem 50-minütigen Violinkonzert Op.101 (1907/08) von Max Reger. 1908 in Leipzig mit dem Gewandhausorchester unter Arthur Nikisch uraufgeführt, ist es nun als Konzert für Violine und Kammerensemble mit Kristian Winther als Solisten zu hören. Reger nahm das Stück „klassischen Anstrichs“ als symphonisch wahr: „Natürlich ist in der Solostimme auch das virtuose Element bedacht, aber nicht überwuchernd, sondern das Hauptgewicht lege ich auf eindringliche Melodik auch der beiden Allegrosätze“ (Reger in einem Brief an den Verlag C.F. Peters vom 9.6.1907). Guittart ließ sich in seinem, um eine Oboe erweiterten Arrangement von der Fassung des Rudolf Kolisch aus dem Jahr 1922 inspirieren.
Bedauerlicherweise noch immer ein Außenseiter in den Konzertsälen, gibt es mittlerweile einige Einspielungen mit Kammerensemble, etwa diejenigen mit Winfried Rademacher oder Elena Denisova als Solisten.
Busonis Berceuses élégiaque, Op. 42, mit dem Untertitel „Des Mannes Wiegenlied am Sarge seiner Mutter“ in Memoriam Anna Busoni, geb. Weiss, geht auf seine Elegie Nr. 7 für Klavier zurück. Für Kammerorchester geschrieben, erfuhr das kurze, schmerzvolle Stück seine Uraufführung 1911 in New York unter der Stabführung von Gustav Mahler. Der Schoenberg-Schüler Erwin Stein hatte es für den Verein adaptiert, wurde aber erst 1923 in Hamburg aus der Taufe gehoben. Henk Guittart hat das Stück bereits für das erste Album arrangiert, jedoch nochmals als Abschluss des Zyklus eine völlig neue Version erstellt, mit einer enormen Erweiterung des verwendeten Instrumentariums um Oboe, Bassklarinette, Horn, Harfe, Celesta und Gong.
Bei beiden Werken, klanglich opulenten, strukturell dicht gewebten spätromantischen Juwelen des früher 20. Jahrhunderts, erstaunt es, wie sehr Henk Guittart trotz oder gerade wegen extrem reduzierter Streicher (Violinkonzert!) die Essenz der Musik, ihr innerstes Wesen freizulegen vermag. Das bedeutet eben noch immer ein hochkomplexes Ranken der Stimmen in unerwartet stromschnellig mäandernden Modulationen, wobei die Pracht des Soloparts der Violine stärker zum Ausdruck kommt als bei vollem Orchester. Aber alles klingt transparenter, feiner, hie und da scheint durch den Dschungel an Noten auch Sonnenlicht zu dringen. Nix scheint fix zu sein, ein Gefühl mit unbestimmter Richtung, ein Gedanke, nur angehaucht, alles bereitet sich schon im Keimen auf die nächste Metamorphose vor. Auch bei wiederholtem Hören wird einem sicher nicht langweilig.
Wesentlich für die Qualität der Wiedergaben ist, dass der Gruppo Montebello und Henk Guittart die Musik formal hochpräzise präsentieren, aber ebenso viel Wert auf die Schönheit und Sinnlichkeit des Klangs legen. Der australische Geiger Kristian Winther, dem keine noch so vertrackte Kadenz Schwierigkeiten bereitet, betont das Sangliche, lässt die Melodien farbenreich blühen wie exotische Orchideen im Treibhaus. Die schlank geführte Violinstimme fügt sich spielerisch in den orchestralen Teppich. Auch dieser glänzt floral gewebt, wobei Art Deco Muster als Assoziation passend scheinen.
Fazit: Eine anspruchsvolle, wissenschaftlich fundierte und fabelhaft inszenierte Reihe über ein kleines, aber intensives Kapitel der Musikgeschichte, das obwohl abgeschlossen, in den weiterführenden Bearbeitungen Guittarts und den stilsicheren wie lebendigen Aufführungen/Alben weiterlebt.
Dr. Ingobert Waltenberger