CD FERDINANDO PAER „LEONORA“ – Live Mitschnitt von den INNSBRUCKER FESTWOCHEN August 2020; cpo
Im Beethoven-Jubiläumsjahr dirigierte Alessandro de Marchi Paërs „Leonora“ – Vorbild und Modell für Beethovens „Fidelio“ ?
Wir alle wissen, wie sehr sich Beethoven mit seiner ersten und einzigen Oper „Fidelio“ geplagt hat. Die Urfassung des „Fidelio“ hieß denn auch „Leonore“ und stammt aus dem Jahr 1805. Die Titelpartie war wie in der am 3. Oktober 1804 in Dresden uraufgeführten Oper von Paër einem dramatischen Koloratursopran anvertraut. In Wien ist eine Aufführung der heroischer Freiheitsoper Paërs im Palais Lobkowitz vom März 1806 verbürgt, in der Louise Müller die Titelpartie sang, die auch die Marzelline der ersten Aufführungen von Beethovens „Fidelio“ war. Beethoven war mit Paërs in italienischer Sprache verfassten und auf derselben literarischen Quelle beruhenden Oper (Léonore ou L‘amor conjugal von Jean Nicolas Bouilly) bestens vertraut, er besaß auch eine Partitur des melodieseligen Werks.
Die Ähnlichkeiten und Parallelen im Aufbau, der Gliederung der Nummern, der Instrumentierung und im musikalischem Ausdruck sind allzu frappant, als dass ein substanzieller Einfluss von Paër auf Beethoven zu leugnen wäre. Daher sind De Marchis Initiative im Beethoven-Jahr sowie die Publikation des Mitschnitts des Labels cpo hoch zu schätzen, zumal die einzige (Studio-)Aufnahme der Paër-Oper aus dem Jahr 1978 mit Koszut, Jerusalem, Gruberova (Marcellina), Brendel, Orth, Tadeo und van Kesteren unter der musikalischen Leitung von Peter Maag nur noch in einer dem Dirigenten gewidmeten Gesamtausgabe der australischen DECCA Tochter „Eloquence“ (The Peter Maag Edition, 20 CDs) erhältlich ist. Zudem beruht die Aufnahme aus Innsbruck auf einer historisch-kritischen Neuedition der Dresdner Uraufführungspartitur.
„Oh misera vittima! Qualunque tu sia salvarti pretendo da morte si“ oder „Wer du auch seist, dich will ich retten!“ heißt es textlich und dramaturgisch zwillingsgleich bei Paër und Beethoven. Paërs Oper endet im Gefängnis, kein Sonnenlicht erhellt die letzte Szene wie bei „Fidelio.“ Sollen Musikologen alle Ähnlichkeiten beginnend mit dem Klopfen an das Gefängnistor während des Eröffnungsduetts von Marzellina und Giacchino über Florestans Aufbäumen gegen die Dunkelheit bis zur Trompete, die die Ankunft des Ministers ankündigt, aufzählen, für das Publikum ist vielmehr von Interesse, wie die Oper auf uns heute wirkt. Und hier zeigt sich, dass Paërs „Leonora“ sowohl was die Dramatik, die Eingebungskraft der Arien und Ensembleszenen sowie die packende Emotionalität anlangt, eine durchaus hörenswerte Oper ist. Sie ist von ihrer Anlage her keine universelle Freiheitsoper, sondern hat einen geschlosseneren, auf die Liebe der Gatten konzentrierten Duktus als der zwischen Singspiel und großer Deutscher Oper changierende hybride „Fidelio“.
Der in Parma gebürtige Paër mit österreichischen Vorfahren ist musikhistorisch auch deshalb von Interesse, weil er mit seinen 50 Opern das Bindeglied zwischen der neapolitanischen Barocktradition eines Hasse oder Porpora mit dem italienischen Belcanto von Rossini, Bellini und Donizetti darstellt. Der mehrteilige Aufbau von Arien mit Rezitativ, Cavatine und Cabaletta finden sich bei Paër ebenso wie die sich stetig steigernden Orchester-Crescendi eines Rossini. Außerdem war er in Paris Lehrer von Franz Liszt.
Die Aufnahme aus Innsbruck ist musikalisch, orchestral wie sängerisch durchwegs hochwertig. Eleonora Bellocci als Leonora (Fedele) ist im deutschen (Gretel) wie Italienischen Fach gleichermaßen zu Hause. Ihren unerschütterlichen Einsatz für ihren eingesperrten Gatten besiegelt sie koloraturselig und mit loderndem dramatischem Aplomb. Ihr Florestano wird von Paolo Fanale ausgesprochen klangschön (ein wenig erinnert er vom Timbre als auch stilistisch in den gehauchten Decrescendi an Luciano Pavarotti) präsentiert. Wir erinnern uns, dass der junge Jonas Kaufmann die Rolle im September 2000 in Winterthur gesungen hat, bei Youtube existiert ein Mitschnitt der Arie.
Renato Girolami ist ein charakterfester Kerkermeister Rocco. Seinen profunden Bass weiß er streng väterlich mit einem kleinen Quentchen Buffo versehen klug einzusetzen. Die von der Anlage her wesentlich bedeutsamere und umfangreichere Rolle der Marcellina wird von der Schweizer Sopranistin Marie Lys frech-emanzipiert mit leuchtendem lyrischen Sopran interpretiert. Ihr Liebhaber Giocchino ist bei Paër einem Bass anvertraut. Luigi De Donato brütet hier mit dunkler Macho-Attitüde. Kein Wunder, dass sich Marcellina anderweitig umsieht. Der italienische Tenor Carlo Allemano macht aus Don Pizzaro keinen dunklen Dämon, sondern einen aus seiner Logik her verständlichen Gouverneur. Der kroatische Tenor Krešimir Špicer ergänzt das glänzende Ensemble als staatstragend edler Don Fernando, Minister und Grande von Spanien.
De Marchi wächst zu seinem 10-jährigen Jubiläum als Chef des Innsbrucker Festivals für Alte Musik temperamentvoll über sich selbst hinaus und präsentiert sich mit dem Innsbrucker Festwochenorchester in fulminanter Form. Mit straffen Tempi und vorwärts drängendem Drive garantiert er eine temporeiche musikalische Unterhaltung. Das jubelnde Finale des zweiten Akts „Cosí oltraggiare osasti“ schließt eine glänzende Aufführung würdig ab.
Dr. Ingobert Waltenberger