CD FELIX MENDELSSOHN-BARTHOLDY Streichquartette Nr. 2 und 6; GOLDMUND QUARTETT; Berlin Classics
Das aus München stammende, über 15 Jahre seit der Gründung in derselben Formation auftretende Goldmund Quartett hat ein fulminant musiziertes wie programmatisch wichtiges Mendelssohn Album herausgebracht. Der Erkenntnisgewinn aus der Gegenüberstellung des frühen Quartetts Nr. 2 in a-Moll, Op. 13 mit dem die unendlich tiefe Trauer des Komponisten nach dem Tod seiner Schwester Fanny durchziehenden Quartetts Nr. 6 in f-Moll, Op. 80 ist vor allem einer: Jegliche limitierende Meinung über den Komponisten, Pianisten, Organisten und Dirigenten, der sich angeblich vor allem in frühromantischen Leichtigkeit und barocker Polyphonie, in Melodienseligkeit und salonhafter Eleganz bewegt hat, ist falsch.
Natürlich dürfen wir diese beiden Streichquartette nicht nur als Nachweis der emotionalen Befindlichkeiten und Sehnsuchtswelten von Mendelssohn sehen, sondern können sie in ihrer Allgemeingültigkeit als individuell in Klänge gegossenes Abbild der Conditio humana selbst begreifen.
Die Vielschichtigkeit seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten kann anhand der vorliegenden Aufnahmen in den detailbesessenen und von schmerzhaft intimen bis lichterloh brennenden Interpretationen neu erkundet werden. Mendelssohn war sicherlich nicht nur die Lichtgestalt aus Sommernachttraum und italienischer Symphonie, sozusagen der Sohn aus gutem Haus, der es zu etwas gebracht hat.
Schon das zweite Streichquartett des 18-jährigen Mendelssohn, 1827 nach dem Tode Beethovens aus der Feder geschüttelt, und mit thematischen Bezügen zu den späten Quartetten seines wie von anderen viel gefürchteten Vorbilds gespickt, drückt viel mehr aus als jugendliche Experimentierfreudigkeit und schwärmerischen „Dort, wo du nicht bist, ist das Glück“ (aus Der Wanderer, Georg Philipp Schmidt von Lübeck) Weltschmerz.
Wir werden weniger Zeuge eines auskomponierten Generationenkonflikts, aber treffen einen auf Beethoven „Übellaunigen“, der gerade mit seinen Insinuationen auf das Andante der Siebtenten Symphonie, die Klaviersonate „Les Adieux“ bzw. das a-Moll Quartett Op. 132 irgendwie den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben versucht und sich dann doch mit dem Eigenzitat aus dem Lied „Frage“ (‚Ist es wahr? Ist es wahr?‘) trotzig behauptet. Mich verblüfft die unglaubliche Reife und die intimen Einsichten des jungen Mendelssohn im zweiten Satz, sein sich Reiben und Rufen, sein Drängen zum Eigentlichen seines Selbst hin.
Besonders zwingend und zupackend spielt das Goldmund Quartett das nervös leidenschaftliche, herzflimmernd rasende Finale. Verzerrte Waldgeister und wüst zorniges Auflehnen wechseln einander ab, bevor das Werk mit einer Reprise der langsamen Einleitung in Demut endet. Ein Wissen um die Abgründe unserer Existenz, eine hemmungsbefreite Grenzerprobung liegt diesem Quartett zugrunde. All das ist hier schon im Kern enthalten, was Mendelssohn später in seinem sechsten Streichquartett Op. 80 detailreicher und dunkler grundiert ausformulieren wird.
Im letzten Streichquartett Mendelssohns in f-Moll, zwischen dem Tod seiner geliebten, 41 Jahre alten Schwester Fanny im Mai 1847 und seinem eigenen Ableben im November desselben Jahres in der Schweiz entstanden, scheint der Komponist in kalt-schicksalshaftem Lebensschlamm zu wühlen.
Das Goldmund Quartett erschüttert mit einem alle Sicherheiten und Beschwichtigungen zerfetzenden Allegro vivace assa. Es spachtelt mit dicker schwarzer Farbe die schreiende Klage im zweiten Satz. Im Gegensatz dazu geriert sich das As-Dur Adagio als lyrisches Innehalten, als Versuch, noch einmal mit den Mitteln eines Liedes ohne Worte einer nicht beherrschbaren Trauer selbstbeschwörend gerecht zu werden. Im Finale bauschen sich feenhafte Reminiszenzen zu einem gespenstischen Totentanz. Das Goldmund Quartett wartet mit einer unerhörten expressiven Drastik auf, scheut sich nicht davor, kompromisslos diesem letzten kreatürlichen Aufschrei Mendelssohns alle Ehre zu erweisen.
Zwischen den beiden Quartetten erklingen Bearbeitungen für Streichquartette der Lieder ohne Worte „Frühlingslied“, Op. 62, Nr. 6, „Venetianisches Gondellied“, Op. 19, Nr. 6 und „Trauermarsch“, Op. 62, Nr. 3 von Jakob Encke.
Fazit: Eine Aufnahme wie aus einem Guss, der Wahrheit des innersten Gehalts dieser Musik auf der heißen Spur.
Dr. Ingobert Waltenberger