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CD: Evgeny Mrawinsky beim Sibelius Festival 1961 Janus Classics JACL-7

12.04.2025 | cd

Orchestrale Unbedingtheit – Mrawinsky in einer Sternstunde

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Es gibt Aufnahmen, die nicht bloß Dokumente vergangener Zeiten sind, sondern klingende Zeugnisse künstlerischer Wahrheit – voller Energie, Entschlossenheit und unmittelbarer Präsenz. Diese Veröffentlichung des jungen Labels Janus Classics gehört zweifellos dazu. Mit großer Sorgfalt und einem feinen Gespür für klangliche Balance widmet sich das Label historischen Mitschnitten und verleiht ihnen eine neue Strahlkraft, ohne ihre Patina zu tilgen. Dass man dabei nicht vor Imperfektionen zurückschreckt, sondern sich auf das Wesentliche konzentriert – das musikalische Erlebnis –, verleiht dieser Edition eine besondere Authentizität. Nach der beeindruckenden Wiederbelebung von Bruckners Siebter unter Paul Kletzki setzt Janus nun mit einem Konzert der Leningrader Philharmonie unter Evgeny Mrawinsky aus dem Jahr 1961 ein weiteres Ausrufezeichen.

Helsinki war der Schauplatz dieses Gastspiels, das im finnischen Rundfunk aufgezeichnet wurde – eine Aufnahme, die trotz mancher Lücke eine Wucht entfaltet, wie sie nur live entstehen kann. Der erste Satz von Schostakowitschs Fünfter fehlt gänzlich, Tschaikowskys Fünfte beginnt mit einem Bruch: neun Taktstriche sind nicht erhalten. Doch was bleibt, besitzt eine Intensität, die den Hörer unweigerlich in ihren Bann zieht. Janus hat das Material mit größter Sorgfalt restauriert, der Monoklang wirkt präsent, offen, weit – ein technisches Meisterstück. Man hört jedes Detail: die Farben der Streicher, das Glühen der Holzbläser, die nervöse Glut in Mrawinskys Zugriff.

Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 entfaltet sich unter seiner Leitung als dramatisches Kammerspiel im Großen. Mrawinsky baut Spannung auf, nicht durch Pathos, sondern durch unnachgiebige Präzision. Der Klang bleibt schlank, die Linie straff – kein Nachgeben, keine Konzession an verführerische Melodik. Die Leningrader spielen mit einer Klarheit, die beispiellos wirkt. Streicher artikulieren mit Schärfe und Eleganz, während die Bläser – vor allem die melancholischen Klarinetten und das fein gezeichnete Fagott – emotionale Tiefe ins Spiel bringen. In den Höhepunkten der erhaltenen Sätze dröhnen die Blechbläser mit brutaler Wucht, und das Schlagwerk sorgt für eine schneidende, ja mitreißende Theatralik. Hier zeigt sich Mrawinskys Talent, orchestrale Kraft zu organisieren, zu bündeln und in kontrollierte Energie zu verwandeln.

In Tschaikowskys fünfter Sinfonie offenbart sich seine künstlerische Handschrift in aller Deutlichkeit. Vielmehr seziert er den Stoff, legt ihn frei von Kitsch und hohlem Pathos – übrig bleibt eine Musik, die in ihrer archaischen Kraft drängend unheimlich wirkt. Wo andere Dirigenten schwelgen, bleibt Mrawinsky aufgeraut, diszipliniert, unerbittlich. Der Klang ist nicht rund, sondern fokussiert, die Dynamik nicht auftrumpfend, sondern zupackend. Die Steigerungen bauen sich mit physischer Wucht auf. Der Schlusssatz entwickelt sich zur orchestralen Katastrophenszene – und bleibt doch unter Kontrolle, geführt von einer inneren Logik, die nichts dem Zufall überlässt. Die instrumentale Kraft entfesselt sich wie eine Naturgewalt. Einige Soli – etwa das Horn – treten klanglich weniger hervor und bleiben in der Gesamtdramaturgie überraschend zurückhaltend, was den sonst schneidend konturierten Satzverlauf leicht dämpft, ohne den Gesamteindruck zu schmälern.

Nach dieser emotionalen Entladung wirken die beiden Zugaben wie dunkle Schattenbilder. Griegs „Solveigs Lied“ erklingt schlicht, getragen von leiser Melancholie. Es ist ein Blick nach innen, ein kurzes Innehalten. Anatoly Ljadows „Baba Yaga“ hingegen ist alles andere als leise. Mrawinsky formt aus dem kleinen Charakterstück ein gespenstisches Drama, ein Klangbild voller Wahnsinn, mit Furor vorgetragen. Die Apotheose dieser Miniatur gerät zum mythologischen Spektakel – irrlichternd, unheimlich, packend.

Diese Veröffentlichung ist ein Geschenk für alle, die das Dirigieren als Kunst der Kontrolle und des Ausdrucks begreifen. Mrawinsky war nie ein Klangverliebter, sondern ein Gestalter, ein Dramaturg des Klangs, ein Meister der musikalischen Unbedingtheit. Dass Janus Classics ihm nun mit dieser Edition ein klingendes Denkmal setzt, ist ebenso verdienstvoll wie erfreulich. Tontechnik, Booklet, editorische Sorgfalt – alles wirkt äußerst durchdacht und respektvoll.

Wer diese Musik kennt, wird staunen, mit welcher Wucht und Klarheit sie hier neu erlebbar wird. Und wer sie zum ersten Mal hört, wird verstehen, warum Mrawinskys Kunst bis heute fasziniert.

Dirk Schauß, im April 2025

Evgeny Mrawinsky beim Sibelius Festival 1961

Janus Classics JACL-7

 

 

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