Eugène Ysaÿe neu entdeckt: Virtuosität und Klangpoesie im Dialog
Eugène Ysaÿe (1858–1931), der „König der Violine“, war nicht nur ein gefeierter Virtuose seiner Zeit, sondern auch ein visionärer Komponist, dessen Werke die Grenzen der musikalischen Ausdruckskraft und Virtuosität neu definierten. Sein kompositorisches Schaffen ist gekennzeichnet von einer tiefen Verbindung zur Geige, reicher Harmonik und einer klanglichen Fantasie, die ihrer Zeit oft voraus war. Diese außergewöhnliche CD bietet eine Premiere: Eine Sammlung orchestraler Werke Ysaÿes, von denen viele erstmals in ihrer vollständigen Fassung eingespielt wurden. Unter der Leitung von Pablo González interpretiert das Orchestre Philharmonique Royal de Liège gemeinsam mit hochkarätigen Solisten eine faszinierende Palette von Ysaÿes musikalischen Schöpfungen.
Obwohl Ysaÿe als Geigenvirtuose Weltruhm erlangte, blieb sein kompositorisches Werk lange im Schatten seines Instrumentalgenies verborgen. Geboren in Lüttich und beeindruckt von der belgischen Musikkultur, schuf er einen unverwechselbaren Stil, der technische Raffinesse und Emotionalität vereint. Seine Musik ist dabei nicht nur ein Prüfstein für Interpreten, sondern auch ein Spiegel seiner einzigartigen klanglichen Vision, die von Wagner, Franck und der französischen Spätromantik inspiriert wurde. Seine Kompositionen zeichnen sich durch eine besondere Mischung aus Virtuosität, lyrischer Schönheit und orchestraler Farbenpracht aus, wie ein Blick auf einige seiner herausragenden Werke zeigt.
Die „Fantaisie Op. 32 für Violine und Orchester“ ist ein beeindruckendes Beispiel für Ysaÿes Fähigkeit, freie und improvisatorische Strukturen mit der technischen Brillanz der Solovioline zu verbinden. Mit einer träumerischen Melodik, die immer wieder in virtuosen Passagen kulminiert, entfaltet das Werk eine emotional packende Atmosphäre, die das Publikum mitreißt.
Ganz anders, aber ebenso bezaubernd, zeigt sich die „Petite Poème romantique für Violine und reduziertes Orchester“, die von einer intimen und eleganten Stimmung bestimmt ist. Die schwelgerische Melodik und die kammermusikalisch klare Orchestrierung machen dieses Werk zu einer subtilen Liebeserklärung an die romantische Ästhetik.
Mit den „Paganini-Variationen für Violine und Orchester“ würdigt Ysaÿe den legendären Virtuosen Niccolò Paganini. Dieses Werk ist ein wahres Feuerwerk technischer Raffinessen, in dem die Violine mit Pizzicati, Flageoletttönen und Doppelgriffen brilliert. Gleichzeitig wird das Orchester als ebenbürtiger Partner eingesetzt, wodurch ein kraftvolles klangliches Wechselspiel entsteht.
Die Leichtigkeit und der ausgelassene Charakter der „Saltarelle carnavalesque für Violine und Orchester“ heben sich davon deutlich ab. Dieses Stück, inspiriert von der tänzerischen Lebendigkeit der Saltarelle, verbreitet mit seinen sprudelnden Läufen und karnevalesken Rhythmen eine ansteckende Fröhlichkeit, die das Orchester mit farbenreichen Klangteppichen unterstützt.
Eine geheimnisvoll nächtliche Stimmung entfaltet Ysaÿe im „Poème nocturne“ Op. 29 für Violine, Cello und Orchester, das durch die Innigkeit des Dialogs zwischen den beiden Soloinstrumenten und die impressionistische Orchestrierung besticht. Die Klanglandschaft, die das Orchester schafft, verleiht dem Werk Poesie, während Violine und Cello kammermusikalische Intimität ausstrahlen.
Schließlich zeigt sich in der „Paraphrase sur un Thème de Mendelssohn“ für Sopran und Orchester Ysaÿes Affinität zur menschlichen Stimme und zu melodischer Eleganz. Die Sopranstimme wird virtuos und dennoch lyrisch geführt, während die Orchestrierung das Mendelssohn’sche Thema fantasievoll umspielt und dabei Ysaÿes individuellen Stil bewahrt.
In all diesen Werken zeigt sich Eugène Ysaÿes unvergleichliches Talent, die Grenzen des Virtuosentums zu sprengen und gleichzeitig berührende Gefühlsmomente zu schaffen. Seine Kompositionen bleiben herausragende Werke, die die Verbindung von technischer Brillanz und künstlerischer Sensibilität ideal verkörpern.
Der Geiger Svetlin Roussev beeindruckt mit einer perfekten Verschmelzung aus technischer Brillanz und musikalischem Ausdruck. In der „Fantaisie“ gestaltet er die virtuosen Passagen mit Leichtigkeit und verleiht den lyrischen Momenten einen fesselnden Glanz. Besonders in den „Paganini-Variationen“ zeigt er atemberaubende Geläufigkeit, wobei seine Tongebung nie an Wärme verliert.
George Tudorache begeistert mit einem feinen Gespür für poetische Gestaltung. Im „Petite Poème romantique“ singt seine Geige mit sanfter Intensität, während er in der „Saltarelle carnavalesque“ mit spielerischer Energie und dynamischer Präzision glänzt.
Henri Demarquette bringt mit seinem Cello-Ton im „Poème nocturne“ eine erdige Tiefe ein, die sich hervorragend mit Roussevs schwebendem Geigenton ergänzt. Ihr Zusammenspiel wirkt wie ein intimer Dialog, der die nächtliche Stimmung meisterhaft einfängt.
Sarah Defrise überzeugt in der „Paraphrase sur un Thème de Mendelssohn“ mit einer außergewöhnlichen Klarheit und Leichtigkeit in der Höhe. Ihr Sopran fügt sich organisch in die orchestrale Textur ein und verleiht der Komposition eine fast ätherische Qualität.
Das Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter Pablo González beweist ein tiefes Verständnis für die Nuancen von Ysaÿes Musik. Die fein abgestimmte Balance zwischen Solisten und Orchester ist bemerkenswert, ebenso wie die lebendige Klanggestaltung. González’ Leitung besticht durch Präzision und Sinn für dramaturgische Bögen.
Diese CD ist ein wichtiges Dokument in der Rezeption von Eugène Ysaÿes kompositorischem Werk. Sie eröffnet einen neuen Blick auf den belgischen Meister und beweist eindrucksvoll, dass seine Musik weit mehr ist als bloßes Virtuosenrepertoire.
Dirk Schauß, im Januar 2025
Eugène Ysaÿe
Poème nocturne
Musique de Wallonie, CD MEW2409