CD ESSENCE – MARINA REBEKA singt Arien von Puccini, Boito, Tschaikowsky, Cilea, Giordano, Leoncavallo, Catalani und Dvořák; Prima Classic
Veröffentlichung: 24.11.2023
Die lettische Primadonna Marina Rebeka ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Sie lässt sich in keine Schublade stecken. Nach und nach erweitert Rebeka den Radius ihrer Rollen quer über die Jahrhunderte und Sprachgrenzen hinweg. Vokal-stilistisch wie in der Prosodie top, vermag Rebeka emotionales Erleben, Rollenpsychologie, musikalische Linien, Phrasierung und Wahrhaftigkeit in faszinierender Weise zu amalgamieren. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob man Rebeka auf der Bühne erlebt oder ihre Stimme, deren so individuelle Farbpalette und Zauber sich extrem gut von Mikros einfangen lassen, auf Tonträgern genießt.
Sicherlich, die Sopranistin mit dem herb-sinnlichen Timbre, einem enormen Stimmumfang und einer ausgefeilten Gesangstechnik hat sich in den letzten Jahren vor allem als Interpretin im italienischen Belcanto-Fach und in Verdi-Rollen ihre scheints stimmlich maßgeschneiderte Heimat gefunden. Auch der Terminkalender 2024 mit Rossinis „Guillaume Tell“ – Scala di Milano, Verdis „I Due Foscari“ – Teatro Municipale di Piacenza, „Il Trovatore“ – Bayerische Staatsoper und „Simon Boccanegra“ – Teatro San Carlo und dazwischen immer wieder das Sopransolo im Verdis „Messa da Requiem“ verweist eindeutig in diese Richtung.
Auf ihrem eigenen CD Label Prima Classic hat Marina Rebeka allerdings auch Solo-Alben mit Highlights aus dem romantisch französischen Opernrepertoire sowie ausgewählte virtuose Mozart-Arien inkl. der beiden Arien der Königin der Nacht) vorgelegt. Auf ihrer neuen Publikation „Essence“ interpretiert Marina Rebeka einige der bekanntesten Arien des italienischen Verismo (der 100. Todestag von Puccini 2024 klopft bereits heftig an der Tür), angereichert durch die Arie der Lisa ‚Otkuda eti slezy, zachem one‘ aus dem ersten Akt von Tschaikowskys „Pique Dame“ und dem ‚Lied an den Mond‘ der Rusalka aus Antonin Dvořáks gleichnamiger Oper.
Auf der Bühne hat Marina Rebeka einige der Rollen, aus denen nun die markantesten Arien die Quintessenz des Programms des neuen Albums bilden, erfolgreich interpretiert. So hat sie unter anderem die Musetta in „La Bohème“ an der New Yorker MET, die Mimi in „La Bohéme“ und die Nedda in Leoncavallos „I Pagliacci“ an der Wiener Staatsoper, die Mimi an der Mailänder Scala oder die Cio-Cio-San in Puccinis „Madama Butterfly“ am Palau de les Arts Reina Sofía Valencia gesungen.
Auf dem bereits im August 2021 in Breslau aufgenommenen Album mit dem Wroclav Opera Orchestra unter der achtsamen und einfühlsamen Stabführung von Marco Boemi stellt Marina Rebeka darüber hinaus Verismo-Reißer aus Boitos „Mefistofele“ (‚L’altra notte in fondo al mar‘), Cileas „Adriana Lecouvreur“ (‚Ecco, respiro appena… io son l’umile ancella‘), Puccinis „La Rondine“ (‚Chi il bel sogno di Doretta‘), „Tosca“ (‚Vissi d’arte‘), „Gianni Schicchi“ (‚O mio babbino caro‘), Giordanos „Andrea Chenier“ (‚La mamma morta‘) und Catalanis „La Wally“ (‚Ebben! Ne andró lontana‘) vor.
Marina Rebekas Vorzüge gerade in diesem Fach bestehen im Vergleich zu anderen Kolleginnen nicht in einem veloursoften Klangbad, sondern in einer stupenden Stimmkultur, berückenden Piani, gestochenen Verzierungen sowie einer beispielhaften Durchdringung von Wortsinn und Tonmalerei (ähnlich Renata Scotto, die dies so vorzüglich konnte).
Rebeka kann in exquisiten, pianissimo gesponnenen Legatobögen mädchenhaft sanft schnurren (Adriana), sich voller dunkler Vorahnung mit der berühmten Träne in der Stimme in nächtliche Sehnsucht und verhängnisvolle Passion versenken (Lisa) oder den traumumflorten Wonnen eines studentischen Kusses nachhängen (Magda). Am meisten beeindruckt Marina Rebeka dort, wo sich zu den Tränen des Gebets, der melancholischen Reflexion, des Abschieds sich für kurze Momente die Krallen der Wildkatze Raum schaffen, uns die stolze Frau begegnet, der das Schicksal oder Männer übel mitspielen (Tosca, Nedda, Maddalena).
Aus jeder Arie destilliert Rebeka ein kleines Drama, formt sie eine ergreifende Geschichte, glutvoll und passioniert, voller Imagination, erzählerischer Kraft und Innigkeit. Die Sicherheit der dramatischen Spitzentöne, die satte Tiefe, eine herrlich charaktervolle Mittellage und eine souveräne Atemtechnik erlauben es ihr, dynamisch kontrastreich differenzierte Bögen zu modellieren (Rusalka, Lauretta) als auch effektvoll Höhepunkte (Butterfly, Margherita, Wally) zu setzen.
Empfehlung!
P.S.: Nachdem ich heute das Album „Essence“ in Schleife gehört habe, freue ich mich sehr auf den Abend, wo ich Marina Rebeka live an der Berliner Staatsoper Unter den Linden erstmals in der Titelrolle von Luigi Cherubinis „Medea“ sehen und hören werde.
Dr. Ingobert Waltenberger