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CD ERWIN SCHULHOFF „FLAMMEN“ – Live-Mitschnitt aus dem Theater an der Wien 2006; Capriccio

21.04.2021 | cd

CD ERWIN SCHULHOFF „FLAMMEN“ – Live-Mitschnitt aus dem Theater an der Wien 2006; Capriccio

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Der ORF durchstöbert in merklich gestiegener Kadenz seine Archive, um Bewahrenswertes zu restaurieren und zugleich einem breiteren PubIikum zugänglich zu machen.

Mit dieser Veröffentlichung von Schulhoffs einziger Oper „Flammen“ wird gleichzeitig eine wichtige Kataloglücke geschlossen. Wir erinnern uns, als das Label DECCA in einer editorisch und künstlerisch vorbildlichen Serie zum Thema „Entartete Musik“ sich u.a. der Oper „Flammen“ auf einen Text von Karel Benes, eingerichtet von Max Brod, annahm. In der Aufnahme aus dem Jahr 1994 aus der Jesus-Christus-Kirche Berlin, die auch die Weltersteinspielung markierte, waren Jane Eaglen, Kurt Westi und Iris Vermillion die Protagonisten. John Mauceri dirigierte das DSO Berlin. Die Aufnahme ist leider wie alle Boxen der Serie längst vergriffen, im Internet wird sie zum Teil zu astronomischen Preisen gehandelt.

Zu Schulhoffs Lebzeiten gab es nur eine einzige, nicht sehr erfolgreiche szenische Produktion in Brünn 1932. Die szenische Deutschland-Premiere der Oper „Flammen“ fand am 17. März 1995 in Leipzig statt. Im Theater an der Wien gab es eine Aufführungsserie vom 5.-14.8. 2006 mit dem RSO, dem Arnold Schoenberg Chor unter der musikalischen Leitung von Bertrand de Billy. Es inszenierte Keith Warner.

„Flammen“ (1932) ist eine eher statische musikalische Tragikomödie in zwei Akten und zehn Bildern. Die Musik ist in der spätromantisch expressionistischen Welt des Alexander Zemlinsky zu Hause und auch Richard Strauss (‚Elektra‘) lässt grüßen. Die Musik (Introduktion zum 2. Akt, Sturm, Gespräch mit  dem Meer, Karnevalsnacht) überwältigt durch eine hochdramatische Ausdrucksdichte wie in Turandot und einer verwegenen Erotik, wie die Prager Jugendstil-Plakate von Alfons Mucha sie zeigen. Zudem ist Schulhoffs Vorliebe für Jazz, den er selber aktiv in der Band von Jaroslav Ježek leidenschaftlich spielte, alles andere denn spurlos an der Oper vorbeigegangen. Schulhoff stellte dem Opernorchester zwei Jazzbands gegenüber, die mit Sopran- und Tenorsaxophon, Piston, Tenorbanjo, Klavier und Jazzschlagzeug ausgestattet sind. Beispielsweise bilden sie in der Mitternachtsmesse einen dramaturgisch radikalen Kontrast zur Kirchenorgel.

Erwin Schulhoff ist wie Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Rasa oder Viktor Ullmann ein Vertreter der tschechischen Moderne. Wiewohl er den Boden der Tonalität grundsätzlich beibehält, erwächst die Faszination für seinen Musik aus dem Grenzgang an kühnem chromatischem Gewölk, dunkel gewittrig bis apokalyptisch getönt samt einer an Schönbergs aus Richard Wagners musikalischer Ekstase in seine spätromantische Schaffensphase hinübergerettete symphonische Anlage der Musik. Da überlagern und entladen sich im durchkomponierten musikalischen Fluss tektonische Kraftfelder, aber im Grunde bezieht sich Schulhoff auf Richard Wagner, dessen revolutionäre Errungenschaften bei ihm “in einen freien großbogigen Fluss, vor allem aber in eine musikalisch akzentuierte Erotik” (Albrecht Dümling) führen.    

Ein surrealer Aufguss der „Don Juan“-Legende bildet den inhaltlichen Rahmen der Oper. Da finden sich ein typischer Zwanzigerjahre-Mix aus einer Art Pseudo Freud’schen Psychoanalyse, des Symbolismus sowie einer von Schulhoff aus dem Schaffen Schoenbergs gefilterten Licht- und Farbendramaturgie. “Die Farbabstimmungen reichen vom Weiß des bewussten Ich, über das Rot des libidinösen ‚Es‘, dem Todessehnsuchtsblau bis hin zum Grün des kontrollierten Über-Ich.” 

Natürlich würde es heute keinem Menschen mehr einfallen, Jazz als Ausdruck eines ‚antibürgerlichen Animalismus‘ einzusetzen, wie dies Schulhoff tat. Die  Modernität des philosophisch-ästhetischen Unterbaus bildet vielmehr die aus der sowjetischen Avantgarde übernommenen filmartigen Montageschnitttechniken eines Sergej Eisenstein. 

Wie verhält sich Don Juan bei Schulhoff? Stets die Todesfee La Morte im Rücken, stolpert er von einem sexuellen Abenteuer zum nächsten. Dabei ist er im Gegensatz zum aristokratischen Haufdrauf bei Mozart ein ganz und gar Unglücklicher. In einer surrealen Anordnung versucht  er sich im Dom von seinen Trieben zu befreien, dann steigt er zu einem Gipfel empor, eine Allee nackter seelenloser Frauenkörper entlang. In einer Schlüsselszene am Meeresufer lieben sich während eines Sturms Don Juan und Margarethe, bis La Morte die Frau tötet. Der traurige Held beschwört wie einst Tristan seine Sehnsucht nach dem Tod. Solche Gefühle hindern ihn nicht daran, während der Karnevalsnacht den als Komptur verkleideten Ehemann Donna Annas zu töten, worauf sich letztere mit Don Juans Degen das Leben nimmt. La Morte verkündet die Strafe für dies Treiben: “Don Juan bist Du, der niemals sterben kann.” Als sich Don Juan erschießen will, wird er nur zu einem noch jüngeren Mann verwandelt. Am Ende fährt dieser verzweifelte Don Juan, der vergeblich danach trachtete, seine Hormone in den Griff zu bekommen, nicht zur Hölle, sondern muss seine destruktive Verführungskraft mit einer Unzahl an weiteren Opfern ad infinitum fortsetzen. 

Die Aufführung aus dem Theater an der Wien genügt künstlerisch höchsten Ansprüchen und ist auch klangtechnisch hervorragend aufbereitet. Der amerikanische Tenor Raymond Very gibt einen herb timbrierten, heldisch auftrumpfenden Don Juan. Die dramatische Sopranistin Stephanie Friede schlüpft gleich in die vier Rollen (Eine Frau, eine Nonne, Margarethe, Donna Anna), die sie mit hochdramatischer Attitüde und auch schneidenden Spitzentönen auflädt. Iris Vermillion ist wie schon bei der DECCA-Aufnahme aus dem Jahr 1995 La Morte. Dunkel, unheimlich, ausdrucksstark. Bertrand de Billy deckt mit dem bestens disponierten RSO viele Nuancen der überreichen Partitur auf. Der Zuhörer hat ganz schön zu tun, all dem zu folgen. Gleichzeitig ersteht vor unseren Ohren ein mächtiges, kohärentes Klangpanorama, das alle Exotismen der Musik wie ein präzise geschnitztes Relief plastisch begreifbar macht. 

Die Aufnahme stellt auf jeden Fall ein beachtliches Dokument sui generis einer einzigartigen Oper dar, die in der Musikgeschichte noch nicht den ihr gebührenden Platz gefunden hat. Anhören! Uneingeschränkte Empfehlung!

Anmerkung: Der Pazifist Erwin Schulhoff starb am 18. August 1942 im Konzentrationslager Wülzburg in Folge von Unterernährung und an Tuberkulose leidend. 

Komplette Besetzung

 

Don Juan: Raymond Very

La Morte: Iris Vermillion

Eine Frau / Eine Nonne / Eine Frau / Margarethe / Donna Anna: Stephanie Friede

1. Frauenschatten: Gabriela Bone

2. Frauenschatten: Nina Bernsteiner

3. Frauenschatten: Anna Peshes

4. Frauenschatten: Christa Ratzenböck

5. Frauenschatten: Hermine Haselböck

6. Frauenschatten: Elisabeth Wolfbauer

Margarethe als Puppe / Columbine: Karoline Kögl

Der Komtur: Salvador Fernández-Castro

Pulcinella: Karl-Michael Ebner

Pantalone: Andreas Jankowitsch

Harlekin: Markus Raab

 

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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