CD ERNEST CHAUSSON Concerto für Geige, Klavier und Streichquartett, LOUIS VIERNE Quintett für Klavier und Streicher; Sony
Es wagnert ungemein: Entdeckenswerte Kammermusik der französischen Spätromantik
Camille Saint-Saëns hatte mit der Gründung der Société Nationale de Musique Erstaunliches ins Rollen gebracht, was die Schöpfung einer genuin französischen Kammermusikbewegung zur Jahrhundertwende anlangt. Ernest Chausson wurde 1886 Sekretär der Société, allerdings hatte sein gestrenger Vater und Firmenchef ihn zuerst Rechtswissenschaften studieren lassen und zum Rechtsanwaltsberuf gedrängt, weil der Bub sollte ja einen standesgemäß anständigen Beruf vorweisen können. Aber dass Beruf nicht Berufung ist, damit hatte Papa Chausson wahrscheinlich nicht gerechnet. Unter dem Einfluss von César Franck und Jules Massenet, die auch seine Lehrer wurden, wandte sich Ernest Chausson – mittlerweile finanziell unabhängig geworden – ganz der Musik zu. Als in seiner opulenten Musik harmonisch-chromatisch subkutan mitschwingendes Schlüsselerlebnis sind seine Aufenthalte in Bayreuth 1880 bis 1889, auszumachen wo er die Musik Richard Wagners in ihrer ganzen Tiefe kennen und lieben gelernt hatte.
Sein etwa halbstündiges, dem belgischen Geigerstar Eugène Ysaÿe gewidmetes Concert für Violine, Streichquartett und Klavier in D-Dur, Op. 21 wurde im März 1892 in Brüssel uraufgeführt. Es handelt sich um kein Sextett, sondern und ein zwischen Violine, Klavier und Streichquartett pendelndes kammermusikalisches Konzert. Wagners in den Ecksätzen wahrlich dominanter, rauschhafter Klangeros gemischt mit der impressionistischen Stimmungskunst eines Fauré ergeben ein Spitzenwerk des französischen fin-de siècle. Auch wenn Chausson immer wieder Anläufe nahm, sich von der deutschen Romantik (=von Wagner) zu emanzipieren, gelungen ist es ihm nie. Da half auch nicht, dass er patriotischerweise auf die Form des „Concerts“ von François Couperin, also auf das frz. 18. Jahrhundert, zurückgriff. Was die Behandlung bzw. Beziehung von Soloinstrumenten und Streichquartett anlangt, so sind Parallelen zu Francks Klavierquintett zu entdecken. Ergo haben wir es mit keinem virtuosen Zurschaustellen der Violine bzw. des Klaviers zu tun, sondern die Stimmen greifen poetischer, subtiler, ja ästhetisch feingepinselt, fließend ineinander.
Natürlich ist in diesem Concert die Violine d.h. Daishin Kashimoto, langjähriger Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, auf seiner luxuriösen 1744 del Gesu tonangebend, obwohl Pianist Éric Le Sage zumindest der „Dicke“ der Schrift auf dem Cover nach zu urteilen, als der Primus inter pares des Albums ausgewiesen wird. Den beiden Musikern begegnen wir auch auf der Aufnahme des Quintetts für Klavier, zwei Violinen, Bratsche und Cello Op. 42 von Louis Vierne.
Die Interpretation des Chausson Concerts ist an Sinnlichkeit, überreichen, stets nobel-pastelllichten Klangfarben nicht zu überbieten. Der herrlich sangliche Ton der Violine und anschlagszarte Klaviergirlanden umranken einander, buhlen umeinander, mal schüchtern tastend, mal energisch, gleich im ersten Satz (Décidé), gestützt vom orchestral aufspielenden Schumann Quartett. Der Tanzrhythmus des Intermezzos der Sicilienne und das so depressive Trauern im Grave, an dessen Ende man meint, den betäubende Duft von Lilien einzuatmen, weicht einem spielerisch angelegten Finale. Und wieder ist es Daishin Kashimoto, der sein Instrument überirdisch und betörend begehren, sehnen und jubeln lässt, wobei das Klavier so etwas wie pointilistisch getupfte Leichtigkeit über die Schwere der spätromantischen Klangvisionen gleitfliegen lässt.
Atmosphärisch völlig anders gestaltet sich das dreisätzige Klavierquintett op. 42 des Louis Vierne. Von Orgelmusik (der wegen grauen Stars beinahe blind zur Welt gekommene Vierne war Schüler von Charles Widor am Pariser Konservatorium) und orchestraler Faktur geprägt, wandelt Vierne in diesem Stück die post-Wagnersche Klangsprache mit etlichen motivischen Anleihen („Tristan und Isolde“) zu einer bewegenden Trauermusik, die vom Tod seines Sohnes Jaques im Ersten Weltkrieg im November 1917 emotional getragen ist. Vierne sah das Quintett als Votivgabe für das tragische Schicksal seines Kindes. Das 1920 in Genf uraufgeführte Quintett atmet schwarze Verzweiflung, durchdringt alle schmerzenden Fasern der Liebe eines Vaters und seines Verlustes. Die Klangsprache geht von der Spätromantik aus. Sie arbeitet im Vergleich zu Chausson mit modernen, drastischeren Ausdrucksmitteln (Maestoso). Die schreiende Klage (Larghetto sostenuto), die von dieser energieberstenden Musik ausgeht, ist quälend und von seltsamer Schönheit zugleich.
Éric Le Sage und Daishin Kashimoto werden hier von Natalia Lomeiko (Violine), auch von Yuri Zhislin (Viola) und Claudio Bohórquez (Cello) unterstützt.
Das Leben beider Komponisten endete jeweils furchtbar tragisch: Ernest Amédée Chausson starb im Alter von nur 44 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls (Grund: Kurve samt Steinmauer, keine Bremsen) während eines Sommerurlaubes auf Château de Moussets, als er seine Familie (Ehefrau und fünf Kinder) vom Bahnhof in Limay von einem harmlosen Ausflug ins nahe Paris abholen wollte. Louis Vierne starb 66-jährig im Juni 1937 während eines Orgelkonzerts an den Folgen eines Gehirnschlags. Gemeinsam mit Maurice Duruflé gab Vierne ein (sein 1750.) Orgelkonzert für „Les Amis de l’Orgue” in Notre-Dame.
Fazit: Ein Album mit zwei selten gespielten Kammermusik-Werken, das in jeder Hinsicht viel abverlangt. Die Interpretation ist nichts weniger als tropisch glühend bis schicksalsstachelhaft aufbegehrend. Nicht fürs Kaffeekränzchen am Sonntag geeignet. Für das Kennenlernen von Vierne wäre etwa das „Allerseelenfest“ ein guter Anlass.
Dr. Ingobert Waltenberger