Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD EDWARD ELGAR: Symphony Nr. 1, Cockaigne Ouverture; Oehms Classics

20.07.2024 | cd

CD EDWARD ELGAR: Symphony Nr. 1, Cockaigne Ouverture; Oehms Classics

ALEXANDER SODDY dirigiert das Nationaltheater-Orchester Mannheim

sodd

Ein Landei kommt in eine wuselige Metropole. Und nicht in irgendeine: Nach London! Erste große Werke schuf der Organist, Konzertmeister und Kammermusiker Edward Elgar als kompositorischer Spätzünder erst mit 40 Jahren. Tonsetzerischer Autodidakt, genoss der Sohn eines Musikalienhändlers und Klavierstimmers in Broadheath bei Worcester mit Birmingham als nächstgelegener Großstadt eine profunde musikalische Ausbildung schon in jungen Lebensjahren. Mit 20 Jahren beherrschte er Fagott, Cello, Violine und Orgel. Größere Anerkennung als Komponist erfuhr Elgar erst 1899 mit den genialen Enigma-Variationen und zur Jahrhundertwende mit dem Oratorium „The Dream of Gerontius“ für das Birmingham Triennial Music Festival. Privat liebte es der Fußballfan Edgar, mit seinem Rad Phoebus und seiner Frau Caroline Alice ausgedehnte Touren zu unternehmen.

1901 schrieb Elgar die Cockaigne Ouverture mit dem Untertitel ‚In London Town‘. Auch wenn die Etymologen unter uns sofort einen Querverweis zum französischen Wort pays de Cocagne oder im Englischen eben Cockaigne für Schlaraffenland erkennen, leitet sich der Titel dieser 15 Minuten langen Konzertouvertüre von Cockney (auf Deutsch in etwa Hahnenkötelchen), einem Londoner Regiolekt ab. Diese oft in ärmlichen Verhältnissen lebenden alteingesessenen Bewohner Londons nannten das Viertel in Hörweite der Glocken der Kirche St Mary-le-Bow in der City of London Cockaigne.

Den Auftrag zu diesem die Lebendigkeit einer Großstadt feiernden Stück erhielt Elgar von der Royal Philharmonic Society. Vom Komponisten selbst als „fröhlich und londonerisch; aufrichtig, gesund, humorvoll, kräftig, nicht jedoch vulgärbeschrieben, handelt es sich um ein programmatisches Werk, das wie Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ vom Staunen angesichts des bunten Treibens in einer Metropole erzählt. Natürlich bildet bei Elgar der genius loci London die Quintessenz einer Musik, die wie ein kleines Hündchen flanierend in allen Winkeln und Ecken zu schnüffeln scheint. Onomatopoetische Anklänge an rotzige Kinder, Kirchenglocken, Marktschreierei, Entengeschnatter, romantisches Gezirze, dunkle Gestalten, aufmarschierende Blas- und Militärmusikkapellen, das Bootsgehupe auf der Themse, all das verbindet sich nahezu hymnisch zu einem musikalischen Riesengemälde eines historischen London, das fühlbar atmosphärisch bis heute strahlt. Wie sehr Elgar auch andere Komponisten vor allem der Filmmusikbranche mit dieser Cockaigne Ouvertüre inspirieren konnte, höre ich entfernt vom Hauptthema aus etwa in Henry Mancinis Song ‚Moonriver‘, den er für den Film „Frühstück bei Tiffany“ schrieb.

Der britische; in Österreich lebende Dirigent und Pianist Alexander Soddy, nicht zuletzt von vielen Operngehern in Berlin, Wien bis New York für seine Interpretationen des deutschen und italienischen Kernrepertoires hochgeschätzt, holt aus dem Nationaltheater-Orchester Mannheim, dem er 2016 bis 2022 als Generalmusikdirektor vorstand, enorm viel an typisch Elgarschem Klangzauber heraus, und das ganz auf seine ureigene Art und Weise. Soddy modelliert aus Klängen ganze Stadtlandschaften. In formaler Stringenz baut er die Themen und melodischen Einfälle zu einem klar rhythmisierten Mini-Mundus. Die vielen kleinen Genreszenen werden trotz üppiger, wenngleich gekonnter Instrumentierung transparent und mit überschäumender Energie in einem elegant schwingenden Rubatobogen dargeboten. Da ist Neugier im Spiel, Entzücken trotz vermutet chaotischer Unübersichtlichkeit, des ewigen Hin und Her der Menschen auf den Straßen. Statt pompös geschwellter Hahnenbrust setzt Soddy auf Augenzwinkern und Feinzeichnung, die oft beschworene Verwandtschaft zu Wagners Ouvertüre zu „Die Meistersinger von Nürnberg“ wird ohne Getöse zum kraftvollen Ereignis. Was Soddy vor allem aus der Bläsersektion an forschem Messing, an muskulösem Klang holt, ist stupend.

Eine ähnliche Klangmagie vermag Soddy diesem nicht genug hochzuschätzenden Nationaltheater Orchester Mannheim (das ich nur einmal live bei einer der letzten Pique Dame Gräfinnen von Martha Mödl vor 25 Jahren gehört habe) der ersten Symphonie von Elgar, meiner Meinung nach seiner besten, zu entlocken. Die Qualität der deutschen Orchester abseits der auf höchstem Weltniveau agierenden Ikonen aus Berlin, Dresden, Leipzig und München überrascht überhaupt immer wieder aufs Neue.

Seine Erste Symphonie, Op. 55, vollendete Elgar, als er schon über 50 war. Dagegen nimmt sich Bruckner beinahe als früh Entwickelter aus, obwohl der Vergleich in Anbetracht der Biografien der beiden natürlich hinkt. Ökonomische Zwänge und Privates trugen dazu bei, dass es so lange dauerte. Ein O-Zitat des Komponisten aus der Zeit der Entstehung belegt dies: „Ich versuche Musik zu schreiben, doch das Bittere ist, dass sie mir nicht genug einbringt, sodass ich – obwohl sich meine Seele dagegen sträubt – andere Musik komponieren und arrangieren muss,…“

1908 von Hans Richter in Manchester mit dem Hallé Orchestra mit großem Publikumszuspruch aus der Taufe gehoben, stützt sich diese „Erste“ (der nur noch eine „Zweite“ folgen sollte) ebenso wie die Cockaigne Overture auf ein zündendes; immer wiederkehrendes Thema. „Noble and elevating“ wollte Elgar in diesem effektvollen Stück sein, das aus Skizzen zu einem Streichquartett hervorging. Allerdings haut Elgar im Allegro molto des zweiten Satzes mit Sechzehntelläufen wild um sich, im dramatischen Dampf lässt Mahler grüßen. Im nostalgischen Adagio – Molto espressivo e sostenuto lässt Alexander Soddy nach einem wahrlich verwegen furiosen Allegro molto die Streicher in chromatischem „Tristan“ Fahrwasser ruhig dahingleiten. Bei aller urromantischen Sehnsuchtstrunkenheit gefällt die Natürlichkeit des musikalischen Flusses. Der vierte Satz mischt aufgeregtes Schwadronieren mit komplexesten rhythmischen Wechseln. Soddy lässt nach kontrastreichen Stimmungen das Finale apotheotisch aufjauchzen bis zum ekstatischen Ende. Losbrüllen möchte man vor den Lautsprecherboxen, wenn es nicht zu komisch für die Umgebung wäre.

Fazit: Musik einer schönen Seele, in ihrer Modernität und klanglichen Opulenz grandios dargeboten. Dürfen wir nun dieses Dream-team höflich um die „Zweite“ bitten?

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

Diese Seite drucken