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CD/DVD SOKOLOV „A CONVERSATION THAT NEVER WAS“ Film von Nadia Zhdanova, Sokolov spielt Klavierkonzerte von MOZART und RACHMANINOV; Deutsche Grammophon

20.01.2024 | cd

CD/DVD SOKOLOV „A CONVERSATION THAT NEVER WAS“ Film von Nadia Zhdanova, Sokolov spielt Klavierkonzerte von MOZART und RACHMANINOV; Deutsche Grammophon

Zum Wiederhören und Wiedersehen

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Nach Konzerten gibt sich Sokolov kontaktfreudig und beantwortet Fragen des Publikums. Allerdings gibt der russische Pianist schon seit Jahren der Presse keine Interviews mehr, erlaubt keine Fotoshootings und noch weniger Homestories. Nadia Zhdanova hat in Ermangelung dessen einen Dokumentarfilm über das musikalische und private Leben des Künstlers mit zahlreichen O-Ton Zitaten von Familienangehörigen, Weggefährten und Freunden und raren Archivaufnahmen gedreht. Es wird versucht, einen imaginären Dialog mit den Zuhörern, mit uns allen, die seine Kunst schätzen, nachzuerzählen. Zu Wort kommen u.a. Martin Engstroem, Gründer des Verbier Festivals, der im November 2023 verstorbene Dirigent Juri Temirkanov, dessen Kollege Valentin Nesterov, der Konzertmanager Marco Riaskoff oder der Kunsthistoriker Leonid Gackel.

Die DVD ist Teil eines Doppelalbums, das überdies zwei ältere Aufnahmen des Pianisten in den Fokus rückt: Das Klavierkonzert Nr. 23 in A-Dur, KV 488 von Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der musikalischen Leitung von Trevor Pinnock, aufgenommen live im Salzburger Mozarteum am 30.1.2008 und das dritte Klavierkonzert in d-Moll, Op. 30, von Sergej Rachmaninov mit dem BBC Philharmonic unter Yan Pascal Tortellier vom 27.7.1995. Es handelt sich um eine Live-Aufnahme aus der Royal Albert Hall London. Ebenso rare Dokumente, hat sich der Pianist doch seit weit über einem Jahrzehnt nur noch Konzerten für Klavier solo verschrieben. Der Pianist wählt teils extrem langsame Tempi, verinnerlicht das berühmte Mozart’sche Adagio in fis-Moll auf nahezu unheimliche Weise, lässt aber auch bei Rachmaninovs Zirkusstück alles rein Effektvolle links liegen. Mit stoischer Ruhe durchmisst Sokolov die technisch scharfen Klippen und tiefen Gletscherspalten der drei Sätze. Der Hörer bekommt Erhabenheit statt athletisches Muskelspiel, ziseliert Gedrechseltes statt hämmernder Akkorde.

Sokolov verweigert jegliche Erklärung von Musik, weil er davon ausgeht, dass der musikalische Teil des Publikums so etwa nicht nötig hat und bei den anderen sowieso Hopfen und Malz verloren ist. „Wer blind ist, ist blind, wer taub ist, ist taub“, hat er einmal gesagt. Sokolov dürfte sich ganz Goethes Diktum aus Faust. „Der Tragödie erster Teil, 1808. Nacht, Faust zu Wagner“ zu Eigen gemacht hat: „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, wenn es nicht aus der Seele dringt und mit urkräftigem Behagen die Herzen aller Hörer zwingt.“

Ich finde den Film, in dem Sokolov zwar selber nie zu Wort kommt, außerordentlich gut gelungen und ein Beispiel dafür, wie eine behutsame Annäherung an einen ganz Großen der Zunft und ebenso Scheuen mit Einfühlung und Respekt gelingen kann. Ist Sokolov wirklich ein „Außerirdischer, der nur so tue, als würde er tatsächlich existieren?“. Natürlich nicht. Der Film erzählt einfach die unglaubliche Geschichte eines Mannes, der schon als Knirps wusste, wo die Reise hingeht. Zu Hause gab es viele Schallplatten, der altkluge Knabe setzte sich ans Klavier und konnte sich keinen anderen Lebensweg mehr vorstellen. „Grischa“ hat nie mit anderen Kindern gespielt, ist nach der Schule sofort zu Mama nach Hause gelaufen und galt stets als einer der besten Schüler seines Jahrgangs, Sport ausgenommen. Ein Sonderling ist er schon. Grischa liebte Flug- und Bahnfahrpläne, kannte alle Bus- und Straßenbahnhaltestellen seiner Stadt und sammelte in seinem Zimmer selbst gebastelte Flugzeugmodelle.  

Schüler von Lia Seligmann und Moissej Khalfin am Leningrader Konservatorium, gewann der erst 16-jährige 1966 als jüngster und eigentlich aussichtsloser Teilnehmer aller Zeiten unerwartet und angefeindet den Tchaikovsky Wettbewerb unter Jury-Vorsitzenden Emil Gilels. Seine “wunderschöne“ Pädagogin Lia Seligmann berichtet, dass Sokolov nie genug Aufgaben bekommen konnte und er eine Phrase nie zweimal wiederholen musste. Natürlich stand dem Gewinner der Tchaikovsky-Goldmedaille eine Konzertkarriere offen. Nach dem Studium nahm Sokolov auch eine Verpflichtung als Lehrer an. Er hatte nicht viele Schüler, aber alle erinnern sich voller Dankbarkeit an den gestrengen Pianisten mit hohen Ansprüchen, den exzellenten Analysten und charakterstarken Menschen.

Für Emil Gilels hat Sokolov zeitlebens höchste Bewunderung empfunden und eröffnet fallweise mit einem Konzert die seit 2009 alle zwei Jahre stattfindenden Emil Gilels Festspiele in Freiburg. In der Zeit von 1966 bis 1982 spielte Sokolov 855 Konzerte in 105 Städten der Sowjetunion und weiteren 22 Ländern.

Viele Geschichten über den eigenbrötlerischen Pianisten sind im Umlauf. Im Film wird etwa berichtet, dass sich Sokolov oft sehr kurzfristig (eine Stunde vor Konzertbeginn) entscheidet, welchen Flügel er spielen will und in Fragen der Beleuchtung ein entscheidendes Wörtchen mitreden will. Ob Sokolov wirklich die Serienummern aller Steinways, die er je gespielt hat, auswendig weiß, wen kümmert es. Allgemein wird Sokolov attestiert, dass er backstage überaus freundlich und zuvorkommend sei.

Einen Lichtblick der Faszination des Films machen für mich persönlich die hier erstmals veröffentlichten und vorgetragenen sechs Gedichte von Sokolovs 2013 verstorbener Ehefrau Inna aus.

Sokolov ausgewählte Konzerttermine 2024

17.4., Mi 19:30, Laeiszhalle Hamburg

19.4., 2024, Fr 20:00, Tonhalle Düsseldorf

21.4., So 19:30, Großer Sendesaal im NDR Hannover

25.4., Do 20:00, BASF – Feierabendhaus Ludwigshafen

29.4., Mo 20:00, Philharmonie Berlin

01.5., Mi 20:00, Gewandhaus zu Leipzig, Großer Saal

28.5., Di 20:00, Alte Oper Frankfurt

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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