CD/DVD NICOLA PORPORA „POLIFEMO“ – JULIA LEZHNEVA und FRANCO FAGIOLI in einem Live-Mitschnitt aus der Opéra Royal de Versailles 2024; Château de Versailles Spectacles

Spektakulär virtuose Barockopern der neapolitanischen Schule wie diejenigen von Nicola Porpora erfreuen sich besonders seit der intensiven Pflege durch koloraturgewandte Sängerscharen, mutige Impresarii und kundige Festivalleiter wie Max Emanuel Cencic hoher Beliebtheit. So haben in den letzten Jahren Opern wie „Carlo il Calvo“ oder besagter „Polifemo“ auf ein Libretto von Paolo Antonio Rolli den Weg auf die Bühne und ins Plattenstudio gefunden.
Dies war auch deshalb möglich, weil stilistisch treffsichere und verzierungsagile Stimmen wie diejenigen von Julia Lezhneva, Franco Fagioli oder Yuri Mynenko die passenden goldenen Gurgeln für die vokalen Feuerwerkskanonaden abgaben und noch immer abgeben. 2021/2022 ging man für Parnassus Art Productions mit Porporas „Polifemo“ in Athen ins Studio. Die Gelegenheit war günstig, denn „Polifemo“ war die erfolgreiche Neuproduktion des Bayreuth Baroque Opera Festivals 2021 (im zweiten Jahr seines Bestehens) im Markgräflichen Opernhaus mit dem Barockorchester Armonia Atenea unter der Leitung von George Petrou, schon damals mit Julia Lezhneva als Galatea.
Der nun in einer Box auf drei CDs und einer DVD als reine Tonspur und als Videomitschnitt veröffentlichte „Polifemo“ wurde im Dezember 2024 in der Opéra Royal du Château de Versailles mitgeschnitten. In einer Produktion des australischen Regisseurs Justin Way, inspiriert von den chiaroscuro leuchtenden Gemälden des frz. Barockmalers François de Nomé, und farbintensiven Kostümen von Christian Lacroix sorgen das Orchestre de l’Opéra Royal unter dem kontrastreichen wie flotten Dirigat von Stefan Plewniak für eine der Galanterie und der stupenden Glitzerpracht der Arien höchst erfreuliche musikalische Umsetzung. Freilich spielt in dieser Inszenierung – dem genius loci des Hauses entsprechend – der Tanz, in vollendeter höfischer Eleganz ausgeführt von der Académie de danse baroque de l’Opéra Royal, eine tragende Rolle (Choreografie Pierre-François Dollé).
Das nur aus einer Handvoll Solisten bestehende Ensemble ist mit einem Franco Fagioli (dessen starkes Vibrato gewöhnungsbedürftig ist) in der Farinelli-Rolle des Aci, Julia Lezhneva als Galatea in den Fußstapfen der Francesca Cuzzoni, Paul-Antoine Bénos-Dijan als von Senesino 1735 in London aus der Taufe gehobener Ulisse, dem grandiosen bolivianischen Bassisten José Coca Loca als Riesen Polifemo und der Mezzosopranistin Eléonore Pancrazi als Calipso überwiegend ansprechend und mit dem gehörigen barocken Starfaktor ausdrucksstark (Fagioli und Lezhneva zuweilen mimisch heftig maniriert) besetzt. Auf die Rolle der Nerea und deren Arien hat man im Gegensatz zu Bayreuth 2021 in dieser Produktion verzichtet. Zudem gibt es im zweiten Akt erhebliche Abweichungen in der Abfolge der Nummern.
Der trago-sentimentale Sängergipfel findet am Fuße des feuerspeienden Ätna in einem sizilianischen Marmorsteinbruch statt, wo der verliebte Zyklop Polifemo alles rund um ihn in Schrecken und Furor versetzt. In dieser Szenerie spielen sich die Liebesgeschichten der Neréide Galatée und des Schäfers Aci sowie der Meeresgöttin Calypso und des aus dem trojanischen Krieg zurückkehrenden Heroen Ulisse ab. Nach vokal kulinarisch, schnörkelreichem Hin und her in eifersuchtsvollem Rasen, bukolischer Idylle, Täuschung und Magie endet das Stück in göttlicher Metamorphose: Aci avanciert auf Befehl von Jupiter zum Flussgott, Polifemo geht seiner Unsterblichkeit verlustig.
Wie stets bei solchen Opere serie werden in den Arien und Duetten die jeweiligen seelischen, sich ständig wandelnden, emotionell konfliktreichen Befindlichkeiten und die changierenden Beziehungsebenen des mehr oder weniger göttlichen Bühnenpersonals klanglich reizvoll ausgemalt. In dieser Hinsicht ist der Rückgriff des Bühnenbilds und der Lichtregie auf modern abstrahierte bildnerische Vorlagen der Zeit ästhetisch passend. Wenn es um die Freuden und Leiden der Liebe geht, scheinen Götter und Menschen in ihrer affektiven Verzweiflung bzw. Jubel ziemlich ähnlich gestrickt zu sein.
Der Komponist und begehrte Gesangslehrer Porpora hat in diesem für die Opera of the Nobility geschriebenen „Polifemo“ wahrlich seine ganze melodisch bezaubernde Kunst aufgefahren. Immerhin wollte er in London dem Konkurrenten G. F. Händel zudem mit der Abwerbung der beim Londoner Publikum beliebtesten Sängerinnen und Sängern eins auswischen. Das dürfte damals wohl gelungen sein. Aber auch heute vermag Porporas „Polifemo“ allen kompositorischen Widerstreits zum Trotz nach wie vor seinen Reiz zu versprühen.
Stefan Plewniak schlägt in seiner Wiedergabe generell flüssigere Tempi an als dies George Petrou mit seiner vom Klang her dunkleren Armonia Atenea bei Parnassus handhabt. Was die Sängerriege anlangt, so dürfte es überwiegend Geschmackssache sein, ob man als Aci Fagioli oder lieber Mynenko, als Ulisse Bénos-Dijan oder Cencic oder als Polifemo Coca Loza oder Kudinov hören will.
Ich persönlich ziehe den ruhiger geführten, lyrischeren Countertenor des Mynenko als Aci vor. Fagioli verleiht mit seinem übermäßigen Vibrato und hart servierten Verzierungen den technisch wahnsinnig anspruchsvollen großen Arien im zweiten Akt ‚Lusingato dalla speme‘ und ‚Nell’attendere im mio bene‘, besonders in den vielen Trillern, beinahe karikaturale Züge. Die in gesangstechnischer Hinsicht anbetungswürdige Lezhneva reüssiert in aberwitzigen Verzierungen und schmeichelt mit ihrem seidig-sämigen Timbre und unglaublicher Leichtigkeit in beiden Versionen.
Preislich hat Château de Versailles jedenfalls generell die Nase ziemlich vorne. Zudem bekommt man zur rein akustischen Version das Aufführungsvideo mitgeliefert.
Dr. Ingobert Waltenberger

