CD/DVD/Blu-ray UMBERTO GIORDANO „SIBERIA“ – Live Mitschnitt vom Maggio Musicale Fiorentino Juli 2021 mit SONYA YONCHEVA als Stephana; DynamicVerkanntes Verismo-Juwel, musikalisch ebenso meisterlich und spannend wie „Andrea Chénier“
Alexander Pereira hat einen guten Riecher gehabt, als er Giordanos eigene Lieblingsoper „Siberia“ inmitten der Pandemie in einer exquisiten Besetzung programmierte. Als Regisseur hat er Roberto Andò verpflichtet. „Siberia“ ist großes Musiktheater mit kochend heißen Emotionen, vielen atmosphärisch dicht gearbeitet Genreszenen, wie wir sie aus „La Bohème“ kennen, und einer brillanten Instrumentierung. „Siberia“ funktioniert nach dem bekannten Strickmuster „Liebe zwischen Sopran und Tenor wird vom bösen Bariton vereitelt“. Opern wie „Tosca“, „Manon Lescaut“, „Andrea Chénier“, aber auch „La Traviata“, „La Wally“und eine Vielzahl anderer (italienischer) Opern begeistern das Publikum seit über hundert Jahren auf Basis solch eingängiger Dreierkonstellationen, die für die weibliche Protagonistin oft tödlich enden.
Am 19. Dezember 1903 an der Mailänder Scala uraufgeführt, konnte „Siberia“ auf die Erfolge von „Andrea Chénier“ (1896) und „Fedora“ (1898) zwar anschließen, aber diese von Caruso aus der Taufe gehobenen Opern keinesfalls überbieten. „Siberia“ stellte nicht nur Giordano selbst zufrieden, sondern riss auch Gabriel Fauré hin und her, der von einer der interessantesten und singulärsten Werke des frühen 20. Jahrhunderts sprach.
Basierend auf einem Libretto des Luigi Illica, der mit russischen Personen und wohl auch folkloristischen Einsprengseln den Erfolg von „Fedora“ toppen wollte, knüpft die Handlung an Dostojewskis Erzählung „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ an. Die Handlung spielt dementsprechend im zweiten Akt im Winter an der Grenze zwischen Russland und Sibirien und im dritten Akt in einem sibirischen Gefangenenlager nahe den Minen des Transbaikal, kurz vor dem Russischen Osterfest.
Die Diva der Oper, die orientalische Schönheit Stephana, erinnert stark an Verdis Violetta in „La Traviata.“ Sie wurde vom windschiefen Bariton Gléby (heute würde man sagen einem Zuhälter) gefügig gemacht und als Kurtisane an den Fürsten Alexis verkauft. Stephana fadisiert sich naturgemäß in ihrem luxuriösen Palais und verliebt sich in den feschen Leutnant Vassili. Der wiederum ahnt nichts von ihrem Leben und glaubt, sie sei ein bodenständiges Arbeitermädchen. Als er vor einem Feldzug die Wahrheit über Stephana erfährt, stärkt das noch des Soldaten unerschütterliche Liebe. Folge: Im Streit tötet er den Fürsten und wird nach Sibirien verbannt.
Stephana, auch sie weiß um das Wunder der Liebe, folgt Vassili nach Sibirien. Sie hat alles hinter sich gelassen, um das Schicksal ihres Geliebten im brutalen Zwangsarbeitslager zu teilen. Vassilis Beschwörungen, Stephana zur Rückkehr zu bewegen, fruchten naturgemäß nichts. Als auch Gléby verurteilt ins Lager kommt, spitzt sich alles zu, weil er gemeinerweise ausplaudert, dass Stephana eine Prostituierte war. Vassili und Stephana bereiten sich auf die Flucht vor, Gléby alarmiert die Wachen. Stephana wird erschossen.
Diese Haupthandlung ist geschickt durchsetzt mit kleinen Sketches, charakterlich scharf gezeichneten Nebenrollen (Ivan, die Amme Nikona, Walinoff, Miskinsky, den Fürsten Alexis) und Anspielungen auf den Wert von Freiheit.
Luigi Illica führt uns auf die richtige Fährte, wenn er konstatiert, dass „Siberia“ keine historische Oper sei, sondern eine Oper voller Passion, Farbe und Wärme. „Also weg mit Dekabristen, Nihilisten, weg mit Geschichte, weg mit allem.“ Nur die Lyrik menschlicher Leidenschaften, die moralische Dimension von Tolstois „Auferstehung“ des Leidens einer schlecht beleumundeten Frau bleiben übrig. Giordano verwendet zur atmosphärischen Intensivierung russische Folklore, wie etwa das Wolgalied samt Balalaikaklängen und modale Tonleitern, aber er zitiert auch Tchaikovskys „Ouvertüre 1812“. Es könnte sein, dass sich Giordano auf die Publikation „40 russische Volkslieder“, 1866 herausgegeben von Balakirev, stützte, die auch de Falla, Stravinsky und Glenn Miller als reiche Fundgrube diente.
Ab 1904 wurde „Siberia“ überall auf dem Globus aufgeführt, in Buenos Aires wurde die Premiere von Arturo Toscanini dirigiert. In der Folge wurden Striche gemacht (Paris 1905), ab 1910 verschwand die Oper von den Spielplänen. 1927 wurde „Siberia“ an der Mailänder Scala in der finalen Version wieder aufgenommen. Endgültig rehabilitiert wurde „Siberia“ durch die nun vorliegende Einspielung/Verfilmung aus Florenz 2021.
Aus meiner Sicht ist „Siberia“ ein großes Meisterwerk veristischer italienischer Opernkunst. Der kurzweilige Wechsel zwischen erzählenden Episoden, lyrischen Momenten voller Anmut und Verinnerlichung, Passagen im flotten Konversationston, leichtgängigen Ensembles samt Chören und großen dramatischen Höhepunkten voller Leidenschaft und vitaler Lebenskraft machen aus „Siberia“ ein Opernjuwel der Sonderklasse.
Natürlich spielen bei der jetzigen Publikation vor allem die exzellenten sängerischen Leistungen, aber auch die vollmundige und dennoch detailverliebte musikalische Leitung des Gianandrea Noseda eine entscheidende Rolle. An erster Stelle der packenden musikalischen Umsetzung ist die bulgarische Diva Sonya Yoncheva zu nennen. Sie hat die Rolle zuerst 2017 in der Opéra Berlioz Montpellier im Rahmen des Festival de Radio France et Montpellier gesungen. Die Sopranistin, die im Belkanto (im April wird Yoncheva im Théâtre des Champs Elysées die Anna Bolena in Donizettis gleichnamiger Oper sein) genau so reüssiert wie in großflächigen Verismo-Rollen, ist auf dem Zenit ihrer Karriere angekommen. Mit einem fantastisch schönen Timbre gesegnet, ist sie die ideale Interpretin der Stephana, dieses faszinierend gebrochenen Charakters zwischen einer oberflächlichen Vergangenheit und einer puren bedingungslosen Liebe. Stimmlich hat sie alles drauf, insbesondere fasziniert die üppig brokatgewebte Stimmpracht für die exzentrischen Ausbrüche. Eine satte Tiefe, leuchtende Spitzentöne als auch die vielen Zwischenfarben und die Differenzierungskunst für eine eindringliche Gestaltung des Parlandos machen aus Yonchevas Stephana wirklich „La donna, l’amante, l’eroina“ (=Die Frau, die Liebhaberin, die Heroine), wie sich das Giordano vorgestellt haben mag.
Ihr zur Seite dürfen sich Melomanen am pastosen Bariton des George Petean als Gléby genau so begeistern wie an der heldischen Leidenschaft des jungen georgischen Tenors Giorgi Sturua in der anspruchsvollen Partie des unglücklichen Vassili. Sturua erinnert mich an Luis Lima. Mit seinem ein wenig verhangenen Timbre und der immensen Durchschlagskraft seiner baritonal gefärbten Stimme könnte Sturua – eine technische Weiterentwicklung der etwas steifen Höhen und der noch zu pauschalen Stentorstimme vorausgesetzt – ein ganz Großer im Business werden. Die übrige Besetzung hat hörbar hart an der Profilierung der jeweiligen Rollen gearbeitet und steht für eine tolle Ensembleleistung.
Empfehlung ohne Wenn und Aber!
TIPP: Am 6. und 9. Mai wird „Siberia“ konzertant am Teatro Real in Madrid aufgeführt werden. Neben der aus Florenz bekannten Besetzung mit Sonya Yoncheva und George Petean wird die Tenorpartie des Vassili von Bryan Hymel übernommen werden.
Dr. Ingobert Waltenberger