CD/DVD/Blu-ray MARC-ANTOINE CHARPENTIER: DAVID & JONATHAS – Live-Mitschnitt vom November 2022 aus der Chapelle Royale du Château de Versailles; Château de Versailles Spectacles
Luxuriöse Produktion mit prächtig die Barocke stilisierten Kostümen von Christian Lacroix
„Aber letztlich, tapferer Jonathas, steigst du bereitwillig ins Grab hinab, weil es als Fundament für Davids Thron dient.“ Aus René de Ceriziers „Jonathas ou le vrai ami“
Die berühmteste alttestamentarische Männerfreundschaft David-Jonathas hat Marc-Antoine Charpentier zu der musikalisch aufregend schönen Tragédie biblique en un prologue et cinq actes auf ein Libretto von Père Bretonneau inspiriert. Auch Georg Friedrich Händel hat in seinem Oratorium „Saul“ (aktuell in einer sehr gelungenen Inszenierung von Axel Ranisch an der Komischen Oper Berlin zu sehen) dieser Liebe zweier von Rang und Stellung her ungleicher Männer (David war Hirte, Jonathas Königssohn) mit einigen seiner kompositorisch reifsten Eingebungen gehuldigt.
Emotional aufreibend wird die Geschichte dadurch, dass sich schon Jonathas Vater Saul den die Harfe schmachtend romantisch zupfenden Schäferjungen David in die nächtliche Kemenate bestellte, um seiner Schlaflosigkeit und seinen Ängsten etwas Milderndes entgegenzusetzen. Ob da noch etwas anderes lief, wissen wir nicht. Dafür aber, dass diese besondere Zuneigung in blanken Hass umschlug, als David für die Israeliten den Riesen Goliath in der Schlacht mit einer Steinschleuder tötete und Saul nunmehr von rasender Eifersucht auf Kriegsruhm und die Freundschaft zu seinem Sohn Jonathas geplagt um seinen Thron fürchtete. Nachdem er jähzornig einen Speer nach David schleuderte, floh dieser zu den Philistern und deren König Achis, die den kleinen tapferen Heerführer wegen seines Erfolgs ebenfalls nicht haben wollten.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Männerbund, die „subtile Harmonie der Herzen“ zwischen David und Jonathas idealisiert, die angebliche „Selbstlosigkeit“ des Jonathans in Tugend und Denkwürdigkeit marmorisiert. Ideengeschichtlich griff man auf Aristoteles und den heiligen Thomas zurück. Die „christliche“ Freundschaft (Bibel: „Jonathas Seele verband sich mit der Seele Davids“) galt als ein Schatz, eine Liebe, die ganz aus dem Wohlwollen gegenüber dem geliebten Freund besteht und sich stark von der egoistischen Liebe abhebt, die auf das Erwirken von Vorteilen abstellt. Wobei Jonathas in dieser nach heutigen Begriffen wohl naiven Auslegung auf die heilige Liebe Davids zu seinem Volk baut, der den Allmächtigen bittet, seinen Zorn eher gegen seine eigene Person zu richten als gegen sein Volk, um sich dann selbst mehr als Beschützer des bedrängten Davids als der Sohn eines mächtigen Königs zu sehen.
Also ist es kein Wunder, dass Jesuiten Charpentier mit der Verfassung einer pädagogisch nutzbaren Oper auf ausgerechnet diesen delikaten Stoff beauftragten, zumal machtpolitisch opportun, als Ludwig XIV. als musikbesessener Monarch ein Gemälde mit dem harfenspielenden David neben seinem Bett hängen hatte. Uraufgeführt wurde „David & Jonathas“, die einzig erhaltene Oper aus der großen Anzahl an Tragédies, die für die Pariser Jesuiten komponiert wurden, am 28.2.1688 an der Schule Louis-le-Grand. Es darf angenommen werden, dass der zur Verfügung stehende Raum begrenzt war. Die Balletteinlagen beschränkten sich auf je einen Auftritt am Ende jeden Akts, die Interpreten der Hauptrollen mussten auch im Chor mitsingen.
Das Orchester besteht aus vier Streicherstimmen (Dessus de violon I, Dessus de violon II, Hautes-contre de violon, Tailles de violon), Flöten, Oboen, Fagotte, Gambe, Theorben, Cembalo, Trompeten, Orgel und Schlagzeug. „David & Jonathas“ hat nicht zuletzt deshalb ein Alleinstellungsmerkmal in der Geschichte der französischen Barockoper, weil Lully rund elf Monate vor der Premiere starb und Charpentier mit diesem innovativen Werk sanft neue Wege einschlug: Aus dem üblichen Huldigungsprolog wurde eine großmächtige, rein auf die Handlung bezogene Demonstration der Stimmungslage des Stücks: Saul begibt sich in Frauenkleidern zur Pythia, um den Geist seines Vorgängers Samuel anzurufen. Der erscheint und bestätigt Sauls Befürchtung, dass der Himmel ihn verlassen habe. Insgesamt gelingt es Charpentier, im Vergleich zu Lully, die Leidenschaften des Bühnenpersonals luftiger und unmittelbarer zum Ausdruck zu bringen.
Die vorliegende Publikation stellt gleichzeitig verschiedene Formate zur Disposition: Man hat die Wahl, auf zwei CDs nur der Musik zu lauschen, oder aber die szenische Produktion filmisch je nach heimischem Equipment auf DVD oder Blu-ray zu genießen. Das ist ein bedachtsam, verschiedene Interessen des Publikums auslotendes Angebot.
Regisseur Marshall Pynkoski, Spezialist für französisches Theater und Tanz des 17. und 18. Jahrhunderts, stellt in seiner die psychologische Spannung betonenden und ästhetisch bestrickenden Arbeit auf die Zweideutigkeit der Gefühle der drei Protagonisten ab: „Saul ist von Beginn an der unglückliche Held der Oper, der während das Werk auf seinen tragischen Schluss zusteuert, quasi einen Selbstmord in Zeitlupe begeht, ähnlich wie Racines Phèdre.“ Pynkoski legt in seiner Inszenierung neben der formal-rituellen Ebene besonders Wert auf die Glaubhaftigkeit der elementaren menschlichen Gefühle, freilich ohne auf eine gehörige Portion Unterhaltung zu verzichten. Da sind vor allem die einfallsreichen, quietschbunten Kostüme des Christian Lacroix und die extravaganten Tänze wie Chaconne, Bourrée, Gigue und Menuett zu notieren, die Choreografin Jeanette Lajeunesse-Zingg vollständig in die dramatische Handlung integriert. Als Vorbild dienten ihr die von Französischen Tanzmeistern des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts penibel notierten Schrittfolgen und Bewegungsmuster.
Der französische Dirigent und Organist Gaétan Jarry, Gründer des Instrumental- und Vokalensembles Marguerite Louise (der Name zielt auf die Cousine und Muse des Organisten des Sonnenkönigs, die Sängerin Marguerite Louise Couperin ab), gewinnt der meisterlichen Partitur rund um die schwindelerregende Komplexität der Gefühlslagen des Dreigestirns Saul, David und Jonathas klanglich und rhythmisch Faszinierendes ab, eingebettet in einen kriegerischen politischen Rahmen (der als „Nahostkonflikt“ bis heute besteht, sind doch die historischen Philister nichts anderes als die Vorläufer der heutigen Palästinenser), Verrat, Rache, Magie, Religion und letztlich als Moritat die Vergeblichkeit alles Machtstrebens und Ruhms angesichts des Todes des einzig geliebten Menschen. Davids intimes Geständnis inmitten der Triumpfgesänge der „Sieger spricht Bände „Ich habe alles verloren, was ich liebe/ Für mich ist alles verloren.“
Die Besetzung könnte besser und reizvoller nicht sein. Der belgische Tenor Reinould Van Mechelen, der im November dieses Jahres in der großen Première der Barocktage der Staatsoper Unter den Linden als Jason in Charpentiers „Medée“ in Berlin zu hören sein wird, spart als David weder mit betörendem Wohllaut noch mit virtuoser Emphase. Ohne edel timbrierte, stilsichere und engagierte Sänger wie ihn wäre die fulminante Renaissance der französischen Barockoper, wie wir sie aktuell erleben, nicht möglich. Ihm zur Seite ist Jonathas mit einer Frau, der Sopranistin Caroline Arnaud exzellent und klanglich äußerst harmonisch mit Van Mechelen besetzt. Sie wird in dieser Rolle am 16. und 17. Juni 2023 in einem Gastspiel der Opéra Royal de Versailles in der Erlöserkirche in Potsdam im Rahmen der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci in genau dieser Inszenierung zu hören/sehen sein. Saul ist mit einem der bedeutendsten französischen Stars der Barockmusik, dem Bariton David Witczak, pointiert charaktervoll besetzt. In kleineren Rollen reüssieren François-Olivier Jean (La Pythonisse), Antonin Rondepierre (Joabel), Geoffroy Buffière (L’Ombre de Samuel) und Virgile Ancely (Achis).
Ein rundum prachtvolles barockes Hör- und Sehvergnügen!
Dr. Ingobert Waltenberger