CD/DVD/Blu-ray: JOHANN SEBASTIAN BACH: H-MOLL MESSE in zwei neuen Einspielungen aus Frankreich; Harmonia Mundi, Château de Versailles Spectacles
„Jagender Ritt zum Himmel.“ Pichon
Am Anfang waren das Crucifixus von 1714, das Sanctus von 1724 und die berühmte „Missa brevis“ (bestehend aus 21 Teilen eines Kyrie und Gloria), die Bach dem Sächsischen Hof zur Bewerbung um die karrierefördernde Titel-Ehre eines Hof-Compositeurs am 27.7.1733 schenkte, gewidmet König Friedrich August, kurz nach seiner Inthronisation auf dem polnischen Thron. Aber erst 16 Jahre später sollte daraus das werden, was wir heute unter der Bezeichnung h-Moll Messe zu Recht für eine der größten musiksakralen Schöpfungen der Menschheitsgeschichte betrachten. Wir wissen, dass Bach sich besonders im Credo, Sanctus und Agnus Dei bei einigen seiner älteren Kompositionen im Selbstzitatverfahren (sog. „Parodien“) bediente. Auch, dass die Besetzung des höfischen Orchesters 1733 auf 42 Musiker erweitert wurde und ein ausgezeichnetes Vokalensemble unter der Leitung von Jan Dismas Zelenka zur Verfügung stand, was Bach die Möglichkeit gab, musikalisch aus dem Vollen zu schöpfen. Die h-Moll Messe darf also ruhigen Gewissens als Kompilation des „best of“, als „eine visionäre Zusammenfassung seiner Kunst, die mit einem Schrei der ganzen Menschheit, den Anzeichen einer ganz und gar tragischen Notlage beginnt“ (Pichon) betrachtet werden. Pichons Sichtweise „als veritables ökumenisches Testament, das mittels Toleranz, Assimilation und der Integration aller die Synthese der Welten sucht“, trifft die Essenz der Messe besonders gut.
1) Bach: h-Moll Messe: RAPHAEL PICHON dirigiert PYGMALION
Die im April 2024 in der Cathédrale Notre-Dame-du -Liban in Paris entstandene Studio-Aufnahme zeichnet sich durch eine besondere Theatralik, durch eine intensive Dramatisierung der Geschehnisse, dem derzeit wohl denkbesten Chor- und Instrumentalensemble Pygmalion als auch durch ein luxuriöses Solistenquintett (Julie Roset Sopran, Beth Taylor Mezzosopran, Lucile Richardot Alt, Emiliano Gonzales Toro Tenor und Christian Immler Bass) aus. Pichon gelingen magische Einblicke in jenseitige Mysterien mittels einer emotional äußerst kontrastreichen Interpretation. Wer sich das ‚Gloria in excelsis deo‘, die Fuge ‚Cum Sancto Spirito’, das überschäumende ‚Et resurrexit‘ oder ‚Osanna in excelsis‘ anhört, wird begreifen, dass eine höhere Identifikation in der spirituell erzählerischen Auslegung, in Kombination mit einer brillanten instrumentalen und vokalen Umsetzung der Partitur kaum denkbar ist.
Wie ich das erste Mal anlässlich der Programmpräsentation von harmonia mundi durch die französischen Labelchefs Ausschnitte der Produktion im Berliner Kühlhaus gehört habe, war das Erlebnis unbeschreiblich. Das wiederholt sich gerade beim Wiederhören und ich möchte, um die Einzigartigkeit der Aufnahme zu unterstreichen noch einmal Raphael Pichon zitieren, der die Zuhörer mit dieser feuerspeienden Wiedergabe durch ein wahres Purgatorium an Gefühlen geleitet: “Bach beginnt sein Credo mit einem dröhnenden, unmissverständlichen Glaubensbekenntnis, aber er scheint auch wie nirgendwo sonst in seinem Werk die Geheimnisse seiner Seelen zu enthüllen. Mitten in dieser echten Sammlung menschlicher Zweifel, im Moment des Übergangs von Confitebor zum Et exspecto, tauchen unerwartet die Geister der menschlichen Zerbrechlichkeit auf. Der Glaube gerät ins Wanken und verdrängt die Festung, die aus Tonart, Kontrapunkt und Harmonier besteht. Ein eisiger Moment des Schreckens, vielleicht der persönlichste, menschlichste Augenblick überhaupt im Werk des Kantors. Er empfindet diese Unsicherheit mit uns, und zugleich offenbart er uns mit einem ungewöhnlichen zweiten Ex exspecto, das einem jagenden Ritt zum Himmel gleichkommt, wie man sie überwindet. Ein Zeichen, das ihn uns näherbringt und ermöglicht, für immer in sein Haus einzutreten.“
Die Leistungen des Chors und der Solisten sind, was vokale Perfektion und abgrundtiefen Ausdruck anlangt, nichts weniger als spektakulär.
2) Bach: n-Moll Messe: JOHN ELIOT GARDINER dirigiert den Monteverdi Choir und die English Baroque Soloists; Live Film-Mitschnitt aus der Chapelle Royale Versailles 2023
John Eliot Gardiner hat diese Aufnahme im April 2023 in Versailles noch vor dem „Ohrfeigen-Eklat“ anlässlich eines Auftritts in Frankreich beim sommerlichen Festival Berlioz in La Côte-Saint-André realisiert. Seit seinem Comeback musiziert Gardiner ja bekanntlich mit dem neuen Ensemble „The Constellation Orchestra and Choir“, was dieser Aufnahme auch den wehmütigen Stempel des unwiederbringlich Vergangenen verleiht. Bachs h-Moll Messe mit dem Jahrzehnte lang maßstabsetzenden Monteverdi Choir und den 1978 vom Dirigenten gegründeten English Baroque Soloists hat Gardiner erstmals 1984 aufgenommen (Publikation 1986 bei Archiv Produktion; Wiederveröffentlichung 201 bei Signum Classics). Eine zweite Aufnahme hat er 2015 auf seinem Eigenlabel Solo Deo Gloria realisiert.
Schon 1986 hat Gardiner auf die Solisten aus dem Monteverdi Choir für die entsprechenden Aufgaben zurückgegriffen. Mit dem Unterschied, dass er diesmal auch drei eingeladene Solisten engagiert hat: Bethany Horak-Hallett Sopran II, Nick Pritchard Tenor und Dingle Yandell Bass). Das macht vom Grundgedanken der Interpretation wie der Wirkung einen ungeheuren Unterschied aus. Die Solisten und Solistinnen des Chors machen einen unglaublich guten Job und erhöhen die Einheitlichkeit des Gesamten, können aber naturgemäß nicht mit dem Volumen, der Stimmqualität und der für mich damit verbunden größeren expressiven Unmittelbarkeit der Solistenriege (besonders pastos Lucile Richardot und Christian Immler) unter Pichon konkurrieren.
Gardiner kennt dieses Repertoire seit langem und hat seinen eigenen Stil gefunden, der in der Werktreue und von allen technischen Aspekten her untadelig, ausgeglichen, instrumental und vokal hervorragend ausbalanciert und stets elastisch federnd – je nach Belieben und persönlichem -Vorzug – auf den Hörer bzw. Zuseher vielleicht eine Spur spiritueller, weil im klangbildlichen Pathos zurückgenommener, wirken kann.
Ich persönlich bevorzuge Pichons elementarer packende Sicht auf das Mysterium des Todes und die unüberbietbare Eindringlichkeit der artikulierten Klangrede. Was die Klangkulinarik anlangt, so halten sich beide Aufnahmen die Waage. Auf jeden Fall kommt mit der optischen Dimension in den großartigeren Bildern von Sébastien Glas aus der umwerfend schönen Chapelle Royale de Versailles diesem Mitschnitt ein Alleinstellungsmerkmal zu. Rein aufnahmetechnisch haben harmonia mundi und Pichon eindeutig die Nase vorne.
Dr. Ingobert Waltenberger