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CD/DVD/Blu-ray JEAN-BAPTISTE LULLY: ATYS – Tragédie en un prologue et cinq actes sur un livret de Philippe Quinault; Château de Versailles Spectacles

28.05.2025 | cd, dvd

CD/DVD/Blu-ray JEAN-BAPTISTE LULLY: ATYS – Tragédie en un prologue et cinq actes sur un livret de Philippe Quinault; Château de Versailles Spectacles

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„Atys“ war die Lieblingsoper Ludwig XIV. Geschrieben von einem 1632 in Florenz geborenen Italiener, der die französische Oper erfand, dem typischen lieto fine (=glückliches Ende) der italienischen Barockoper ein Ende setzte, sich mit Vorliebe der musikalischen Tragödie widmete und seinen „Atys“ – damals eine ungeheure Novität – auf offener Bühne sterben ließ. Die Rede ist von Giovanni Battista Lulli, alias Jean-Baptiste Lully, der am französischen Königshof zuerst als Tanzbegleiter des jungen Ludwig fungierte, später gemeinsam mit Molière das Genre der Comédies-ballets erfand, und noch wesentlich bedeutsamer, mit Hilfe des genialen Schriftstellers Philippe Quinault die Tragédies lyriques entwickelte. Solche Tragédies begannen mit einem allegorischen Prolog zur Glorie des Herrschers und setzten in fünf Akten ein klassisch antikes Sujet in prosodischer Vollendung stets in Konkordanz mit der Sprache in theatralisch emotionale Klänge.

Das Label Château de Versailles Spectacles scheint eine wundersame Vorliebe für den 1676 uraufgeführten „Atys“ zu haben, legte es doch in kürzester Zeit gleich drei Versionen des Werks vor. Den editorischen Start machte Christophe Rousset mit seinen Les Talents Lyriques und Reinoud Van Mechelen, Marie Lys, Ambroisine Bré und Philippe Estèphe in den Hauptrollen (Collection Opéra Français Nr. 19). Entstanden ist die Aufnahme in der Zeit vom 12. bis 14. Juli 2023 in der Opéra Royal du Château de Versailles.

Die nun unter der Nr. 28 der Collection veröffentlichte Box enthält zwei verschiedene Versionen von „Atys“. Beide werden vom argentinischen Dirigenten Leonardo García-Alarcón musikalisch geleitet: Eine filmisch live eingefangene Aufführung vom 22. und 23. März 2022, und zwar vollständig mit Prolog in den Formaten DVD und der höher auflösenden Blu-ray.

Beim zweiten auf zwei CDs mitgelieferten „Atys“ handelt es sich um eine dem Andenken an Florence Malgoire gewidmete Studioproduktion, realisiert in der Zeit vom 28. bis 31. März 2023. Letztere kommt ohne Prolog aus und unterscheidet sich auch in der Besetzung vom Film: Neben Matthew Newlin (Atys), Giuseppina Bridelli (Cybèle), Ana Quintans (Sangaride), Andreas Wolf (Célenus), Lore Binon (Mélisse, Divinité de fontaine), Valerio Contaldo (Morphée, Dieu de Fleuve) kommen auf der CD als Idas, Phobétor, un songe funeste statt Michael Mofidian Adrien Fournaison, als Iris, Doris, Divinité de fontaine statt Gwendoline Blondeel Sophie Junker, als Fleuve Sangar statt Luigi De Donato Geoffroy Buffière sowie als Le Sommeil, Phantase statt Nicholas Scott und José Pazos Cyril Auvity zum Einsatz.

Die Inszenierung des Live-Mitschnitts stammt vom Choreografen Angelin Preljocaj. in den düsteren, grauen Bühnenbildern von Prune Nourry und den ebenso eintönigen Kostümen der Jeanne Vicérial. Da mich der Ansatz einer choreografierten Oper nicht überzeugt und für das Verständnis dieser so ungemein vielschichtigen Tragödie keinen Mehrwert bringt, habe ich mich rasch auf die bloße Audio-Version verlegt.

Im Interview meint der in dieser Arbeit extrem formalistisch agierende Preljocai dazu: „Bei den gesungenen Teilen wird auch getanzt, und ab und zu mischen sich auch die Sänger unter die Tanzenden. Selbst die Rezitative werden von den Tanzeinlagen animiert. Das mag vielleicht seltsam erscheinen, aber ich hoffe, dass dadurch eine Art Subtext entsteht, denn ich habe großes Vertrauen in die Fähigkeit des tanzenden Körpers, das Geheime und Mysteriöse zu enthüllen, das unmittelbar unser Nervensystem jenseits der Vernunft anspricht.“ Ich persönlich vertraue lieber den unendlichen Farbenspielen der menschlichen Stimme. Am Ende bleibt jeder Versuch einer überwiegend getanzten Annäherung an den musikalischen Gehalt einer Oper und deren komplexe Wirkungen auf das Individuum, bzw. einer solchen Übersetzung durch Bewegungen alleine, höchstens gut gemeintes Stückwerk.

Leonardo García-Alarcón, dem die musikalische Leitung der Neuinszenierung von Francesco Cavallis „Pompeo Magno“ in der Regie von Max Emanuel Cencic beim diesjährigen Bayreuth Baroque Festival (4. September) anvertraut ist, ist künstlerisch als Dirigent, Cembalist und Komponist tätig, hat sich aber vor allem der Aufführung Alter Musik verschrieben.

Mit dem von ihm 2005 gegründeten Ensemble Cappella Mediterranea gelingt García-Alarcón hier eine besonders sangliche, geschmeidige Wiedergabe der Divertissements und Rezitative, wo hochemotional-sinnliche Hörerfahrungen vor intellektueller (Über)Artikulation und streng deklamatorischer Rhythmisierung stehen. Vor allem die schicksalhaft unerfüllten Liebesgeschichten kommen so zu ihrem Recht und berühren in ihrer stringenten Erzählweise.

Diese handeln von der Liebe der Göttin Cybele zum Jüngling Atys und derjenigen des Atys zur Nymphe Sangaride. Sie soll den phrygischen König Celænus heiraten. Um Atys nahe zu sein, ernennt ihn Cybele zu ihrem Hohepriester. In einer langen Traumsequenz offenbart sie ihm ihre Gefühle. Atys hält dennoch an seinem Entschluss für Sangaride fest. Allerdings willigt Sangaride, von Eifersucht geplagt und im Unwissen von Atys‘ Treue, in die Hochzeit mit Celænus ein. Als Atys unter dem vorgetäuschten Argument göttlichen Willens mit Sangaride das Weite sucht, reicht es Cybele. Die allseits bereite Furie Alecton verzaubert Atys. Der wiederum tötet Sangaride, weil er sie in seiner panischen Umnachtung für ein Monster hält. Enthext, erkennt Atys seinen Irrtum und erdolcht sich selbst. Cybele verwandelt den schönen Begehrten in eine Pinie. Cybele, die Korybanten und die Gottheiten der Wälder und des Wassers beklagen dessen Schicksal.

Die Opernmusik Lullys ist ein wahrhaftiges Wunder an subtil textausdeutender Akkuratesse, verblüffenden klangmalerischen Wirkungen und raffinierter Instrumentierung (z.B.: Flöten, Theorben und Violen für den Schlaf). Die gegenständlichen Aufnahmen werden sowohl vokal als auch instrumental den eminenten künstlerischen Ansprüchen ihrer Schöpfer in hohem Maße gerecht. Sie bereichern den Katalog und stellen jeden potentiellen Interessenten vor die Qual der Wahl. Eine objektive Empfehlung für eine der von Château de Versailles Spectacles angebotenen Varianten kann ich in Anbetracht der jeweiligen stupenden Niveaus nicht aussprechen. Vielleicht liefert García Alarcón selbst mit folgender Erklärung ein schlagendes Argument für eine seiner Interpretationen: „Und genau wie er (=William Christie) gehe ich mit meiner argentinischen, lateinamerikanischen Kultur an Lully heran. Hier finde ich die einfachen und zauberhaften Melodien, die leicht zu merken sind und ins Ohr gehen.“

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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