Dmitri Schostakowitsch – The Symphonies, Gürzenich-Orchester Köln · Dmitrij Kitajenko 12CD-Set · Capriccio, C7435
Dmitrij Schostakowitsch: Die Sinfonien unter Dmitrij Kitajenko – meisterliche Interpretation
Die Wiederveröffentlichung der fünfzehn Sinfonien von Dmitrij Schostakowitsch unter der Leitung von Dmitrij Kitajenko, eingespielt mit dem Gürzenich-Orchester Köln, dessen Ehrendirigent Kitajenko ist, zeigt weit mehr als eine bloße Dokumentation der Werke. Diese Aufnahmen entwerfen ein facettenreiches Klangbild, das sowohl die politische Brisanz als auch die tiefgründige Emotionalität von Schostakowitschs Musik auf herausragende Weise einfängt. Kitajenko gelingt es, in jeder einzelnen Sinfonie die zarten Nuancen, die dramatischen Spannungen und die scharfsinnige Ironie der Musik zum Leben zu erwecken – unterstützt von einem Orchester, das die musikalische Reise hingebungsvoll begleitet und auf den russischen Maestro hörbar eingeschworen ist. Die Gesamtaufnahme verdient daher nicht nur aufgrund ihrer technischen Präzision und der intellektuellen Schärfe Beachtung, sondern auch wegen ihrer intensiven emotionalen Durchdringung des Werks.
Das Gürzenich-Orchester Köln erweist sich unter Kitajenkos Leitung als wahres Chamäleon, das sich in jeder Sinfonie neu erfindet, ohne seine Identität zu verlieren. Besonders bemerkenswert ist die enorme Flexibilität des Orchesters – von den durchdringend kämpferischen Passagen bis hin zu den leisen, introspektiven Momenten. In den Soli glänzen insbesondere die Streicher, deren feine Nuancen die lyrischen Momente von Schostakowitsch subtil zur Geltung bringen. Die Blech- und Holzbläser, zeigen in dieser Aufnahme eine beeindruckende Bandbreite von kräftigen, dramatischen Akzenten bis hin zu den fließend schönen, kammermusikalischen Klängen.
Die Holzbläser, allen voran die Klarinette, spielen mit einer Leichtigkeit und Transparenz, die die musikalische Präzision unterstreichen, während die Streicher in den dramatischeren Passagen die gnadenlose Spannung aufrechterhalten. Besonders die Cellisten und Kontrabassisten schaffen es, in den tiefen, dunklen Momenten von Schostakowitsch die emotionale Tiefe zu transportieren – dabei wirken die Passagen nie schwerfällig, sondern stets von einer eindrucksvollen Klarheit durchzogen.
Auch in den kleineren Formationen, in denen beispielsweise die Blechbläser zu Wort kommen, ist das Orchester stets in der Lage, die Tragik und den Humor von Schostakowitsch gleichermaßen präzise einzufangen. Besonders in der Sinfonie Nr. 5 und der Sinfonie Nr. 10 zeigt das Orchester seine Meisterschaft in der Erzeugung von dramatischen Höhepunkten, die von einem fast greifbaren Knistern getragen werden. Zu loben ist zudem die prachtvoll aufspielende Gruppe der Schlagzeuger.
Ein weiterer herausragender Aspekt dieser Gesamtaufnahme ist die gelungene Leistung der Solisten und Chöre, die Kitajenko mit großem Feingefühl in die Musik integriert. In der Sinfonie Nr. 13 „Babi Jar“, die aufgrund ihrer intensiven, politischen Thematik eine besondere Herausforderung darstellt, wird der Bassbariton in den Solopartien zu einem unverzichtbaren Träger der emotionalen und politischen Botschaft. Der Solist trägt die tragische Ernsthaftigkeit dieses Werkes in einer Weise vor, die sowohl die literarische als auch die musikalische Dimension einfängt. Der Chor agiert mit Intensität und Präzision, die dem dramatischen Gehalt der Musik gerecht wird. Besonders in den vielen Schattierungen von Schostakowitschs Chorpassagen – die von hymnischer Pracht bis hin zu erschütternder Kargheit reichen – vermittelt der Chor eine starke Ausdruckskraft. In der Sinfonie Nr. 2 „An den Oktober“ bringt er den feierlichen Charakter des Werkes zur vollen Geltung.
Die erste Sinfonie Schostakowitschs, ein Meisterwerk der Jugend, eröffnet die Reihe mit einem sprühenden, fast überschäumenden Enthusiasmus. Kitajenko und das Gürzenich-Orchester Köln fangen die jugendliche Frische dieses Werkes perfekt ein. Die Musik lebt von der intensiven Energie, den humorvollen Passagen und der Virtuosität der Streicher und Bläser. Besonders auffällig ist die unglaubliche Präzision des Orchesters bei den komplexen rhythmischen Strukturen und der außergewöhnlichen Balance, die das Werk von den ersten Takten an prägt.
In der zweiten Sinfonie zeigt sich Schostakowitsch als Komponist, der sowohl politische als auch emotionale Dimensionen meisterhaft in Musik umsetzt. Der Chor und die Streicher arbeiten hier intensiv zusammen, um die feierliche und gleichzeitig leidenschaftliche Stimmung des Werkes lebendig werden zu lassen. Kitajenko gelingt es, die feierlichen und heroischen Passagen mit Präzision zu gestalten, während die Holzbläser und die Blechbläser die politisch aufgeladenen Themen des Werkes brillant unterstreichen.
Die dritte Sinfonie ist ein Werk voller rhythmischer Komplexität und orchestraler Dichte. Die Musik atmet förmlich die Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts und trägt eine fast europäisch-choreografische Qualität. Kitajenko und das Orchester zeichnen sich hier durch ihre Detailgenauigkeit und ihre kluge Kontrolle der Orchestrierung aus, sodass die vielen kleinen musikalischen Gesten, die im Gesamtbild der Sinfonie eine große Rolle spielen, präzise und klar hervortreten.
Die vierte Sinfonie von Schostakowitsch ist eine immens düstere, intensivere und komplexere Musik, die in dieser Aufnahme von Kitajenko und dem Gürzenich-Orchester Köln zu einer fesselnden Erfahrung wird. Besonders die Streicher erweisen sich hier als höchst präzise, um die dichte, nahezu bedrückende Atmosphäre des Werkes zu vermitteln. Die Blechbläser sind wiederum von einer außergewöhnlichen Stärke, während die Holzbläser die lyrischen Momente einfühlsam gestalten. Das Orchester zeigt sich bei den dramatischen Passagen ebenso scharfkantig wie bei den zarten Momenten des Werkes. Das Schlagzeug läuft hier zu großer Form auf. Am Ende bleibt ein gefühlt endloser c-moll Orgelpunkt, eine einsame Trompete, sekundiert von verstörend wirkenden Celesta-Klängen. Kaum erträglich in der emotionalen Dichte und doch so faszinierend umgesetzt.
In Schostakowitschs fünfter Sinfonie entfaltet sich die musikalische Antwort auf die politischen Repressionen in der Sowjetunion. Kitajenko und das Orchester zeigen die tragische Tiefe dieses Werkes auf beeindruckende Weise, indem sie die Spannung zwischen dem heroischen und dem düsteren, fast resignierten Charakter der Musik perfekt balancieren. Die dramatischen Höhepunkte, vor allem die heftigen, aggressiven Passagen der Blechbläser, werden von Kitajenko mit einer bemerkenswerten Präzision geführt. Die Tempi sind niemals überhastet und die Spannungsbögen klug entwickelt. Kitajenko lässt das Orchester singen und schwelgen. Er überzeichnet die Groteske nicht, sondern lässt die Musik für sich selbst sprechen.
Die sechste Sinfonie zeichnet sich durch ihre Ambivalenz aus – sie beginnt mit einer fast elegischen Leichtigkeit, die sich dann in düstere, groteske Passagen verwandelt. Das Gürzenich-Orchester Köln spielt diesen Wechsel mit einer beeindruckenden Fähigkeit, die Leichtigkeit der ersten Sätze und die bedrückende Schwere des Finales kontrastreich herauszuarbeiten. Die präzise Zusammenarbeit der einzelnen Orchestereinheiten ist ein herausragendes Merkmal dieser Aufnahme.
Die siebte „Leningrader“ Sinfonie ist das vielleicht bekannteste Werk Schostakowitschs und stellt die dramatischste und gleichzeitig heroischste seiner Sinfonien dar. Kitajenko und das Gürzenich-Orchester Köln erreichen hier eine greifbare Intensität, die das Leid und den Widerstand der Leningrader Bevölkerung während der Belagerung bedrückend wiedergibt. Besonders der erste Satz, der die ständige Bedrohung durch den Krieg vermittelt, wird mit einer frappierenden Wucht präsentiert, während die zarten Passagen des Werkes eine erschütternde Sanftheit entwickeln. Der Klagegesang im dritten Satz wird intensiv angestimmt, um dann durch ein gewaltig gestaltetes Finale deutlichst kontrastiert zu werden.
In der achten Sinfonie wird Schostakowitsch von einer tiefen, existenziellen Verzweiflung durchzogen, die in dieser Aufnahme von Kitajenko und dem Gürzenich-Orchester Köln eindrucksvoll zum Leben erweckt wird. Die Musik ist von einer schmerzhaften Direktheit, die sowohl in den dramatischen als auch in den stilleren Momenten von den Sängern und dem Orchester meisterhaft transportiert wird. Besonders die Streicher und Bläser fangen die Zerrissenheit der Musik ein und vermitteln die emotionale Wucht des Werkes.
Die neunte Sinfonie ist das genaue Gegenteil der dramatischen vorangegangenen Werke – ein scheinbar fröhliches, unbeschwertes Stück, das dennoch mit einer durchdringenden Ironie durchzogen ist. Kitajenko und das Gürzenich-Orchester Köln bringen diese Ironie mit einer faszinierenden Leichtigkeit zum Leben. Besonders der zweite Satz, der die Lebensfreude in einer fast kindlichen Weise einfängt, wird von den Holzbläsern mit einer klaren, präzisen Leichtigkeit interpretiert.
Die zehnte Sinfonie von Schostakowitsch ist ein Meisterwerk der musikalischen Psychologie, das in dieser Aufnahme unter Kitajenko und dem Gürzenich-Orchester Köln zu einer höchst intensiven Erfahrung wird. Der zweite Satz, der als musikalisches Porträt Stalins verstanden werden kann, wird von den Blechbläsern mit einer Kälte und Bedrohlichkeit gespielt, die dem Werk eine zusätzliche Dimension verleihen.
Die elfte Sinfonie, die die Revolution von 1905 thematisiert, zeigt Schostakowitsch in einem Zustand der emotionalen Intensität und politischen Relevanz. Das Orchester bringt besonders in den dramatischen Momenten die Erhebung und den Widerstand mit einer überwältigenden Intensität zur Geltung.
Die zwölfte Sinfonie, die der Oktoberrevolution von 1917 gewidmet ist, entfaltet eine monumentale Größe. Das Orchester spielt mit einer grandiosen Präzision und starker Dramatik. Die revolutionäre Stimmung wird in deutlicher Klarheit und Durchdringung transportiert.
Zwei Jahrzehnte nach dem grausamen Massaker in der Kiewer Schlucht Babij Jar erhebt der Dichter Jewgenij Jewtuschenko seine Stimme gegen das Schweigen. Er kritisiert, dass bis dahin kein Denkmal an die Ermordung von über 33.000 Juden erinnert. Sein Gedicht schlägt hohe Wellen und wird schnell zum Politikum, sowohl innerhalb der Sowjetunion als auch international. Schostakowitsch lässt sich von diesen kraftvollen Versen inspirieren und widmet ihnen seine 13. Sinfonie. Dieses Werk wird zu einem eindrucksvollen Zeugnis künstlerischen Muts während der Tauwetterperiode unter Nikita Chruschtschow. Die dreizehnte Sinfonie ist das erschütternde Zeugnis von Schostakowitschs Engagement mit dem Holocaust. Die Basspartie wird in dieser Aufnahme von dem herausragenden Solisten, Arutjun Kotchinian mit unmittelbarer Direktheit und Kraft interpretiert. Der Philharmonische Chor Prag verstärkt die erschütternde Wirkung der Musik, indem er die Schwere der Thematik mit einer unglaublichen Ausdruckskraft vermittelt. Kitajenko betont deutlich die Klage, gibt aber auch dem grotesken Humor hinreichenden Raum zur Entfaltung.
In der vierzehnten Sinfonie, einem düsteren, tiefgründigen Werk, wird die existenzielle Frage nach dem Leben und dem Tod gestellt. Das Orchester und die Solisten, Marina Shaguch, Sopran und besonders der Bariton Arutjun Kotchinian, fangen die Trauer und die Zerrissenheit dieses Werkes auf intensive Weise ein.
Die fünfzehnte Sinfonie von Schostakowitsch, geschrieben fast zwei Jahrzehnte nach Stalins Tod, ist eine vielschichtige Mischung aus Ironie und Melancholie. Statt echter Leichtigkeit zeigt sich ein doppelbödiger Humor, der oft von dunklen, schroffen Tönen durchbrochen wird. Besonders prägnant ist der skurrile Einsatz eines Motivs aus Rossinis „Wilhelm Tell“-Ouvertüre, das im ersten Satz auf überraschende und grotesk verzerrte Weise auftaucht. Was auf den ersten Blick verspielt und übermütig wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als bittersüßer Kommentar. Das Gürzenich-Orchester Köln und Kitajenko zeigen hier eine subtile, aber tiefgründige Lesart der Musik, die sowohl die Verzweiflung als auch die Schönheit der Musik in einem empfindsamen Spiel zur Geltung bringt. Die diversen Zitate von Rossini und Wagner werden von Kitajenko genüsslich ausgebreitet.
Diese Gesamtaufnahme der 15 Sinfonien von Schostakowitsch unter Dmitrij Kitajenko und dem Gürzenich-Orchester Köln ist weit mehr als nur eine technische Meisterleistung – sie ist ein tief empfundenes Zeugnis der russischen Musiktradition und ihrer vielschichtigen Emotionalität. Kitajenko gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die Seele von Schostakowitschs Musik einzufangen und ihre spannungsgeladenen Kontraste, ihre bittere Ironie und ihre ergreifende Tiefe hörbar zu machen. Seine Deutung zeugt von einer unvergleichlichen Nähe zur russischen Musiksprache und einem tiefen Verständnis für die existenziellen Kämpfe und inneren Widersprüche, die diese Werke durchziehen. Kitajenko, dessen Name zu Unrecht oft im Schatten berühmterer Kollegen steht, zeigt hier, dass er ein Dirigent von außergewöhnlichem Format ist – ein wahrer Meister, der mit seinem klaren Blick für Struktur und Detail sowie seiner intensiven Emotionalität punktgenau die Seele dieser Werke trifft.
Das Gürzenich-Orchester Köln erweist sich dabei als idealer Partner: Seine klangliche Brillanz, technische Präzision und bemerkenswerte Ausdrucksbandbreite setzen die Vision Kitajenkos mit höchster Überzeugungskraft um. Ebenso tragen die herausragenden Solisten und Chöre entscheidend zur emotionalen Wirkung dieser Einspielung bei.
Für Musikliebhaber, die nach einer tiefgründigen, authentischen und kraftvoll interpretierten Schostakowitsch-Gesamtaufnahme suchen, ist diese Edition eine unverzichtbare Referenz. Sie zeigt nicht nur die Größe des Komponisten, sondern auch die immense Bedeutung eines Dirigenten wie Dmitrij Kitajenko, der mit seiner Hingabe und seiner einzigartigen Fähigkeit, Musik zu durchdringen, neue Maßstäbe setzt.
Dirk Schauß, im Dezember 2024
Dmitri Schostakowitsch – The Symphonies
Gürzenich-Orchester Köln · Dmitrij Kitajenko
12CD-Set · Capriccio, C7435