CD: CYRILL DUBOIS: SO ROMANTIQUE! • Orchestre National de Lille, Pierre Dumoussaud
Vive le chant français!
Mit seiner neuen CD spürt der französische Tenor Cyrill Dubois der hochexpressiven Natur der französischen Oper der Jahre 1830 bis 1900 nach. Im Laufe des 20. Jahrhunderts empfand man dieses Repertoire nach und nach als exzessiv und übertrieben – wohl auch, weil man nicht mehr wusste, wie es zu singen war. Mit seinem „ténor de grâce à la française“ ist Dubois der richtige Sänger, um dieses Repertoire machtvoll dem Dunkel der Vergessenheit zu entreissen.
Dubois Einspielung, wissenschaftlich und editorisch unterstützt vom Palazzetto Bru Zane in Venedig, ist damit auch ein Ausflug in die Musikgeschichte, konkret die Geschichte der Tenorstimme, die im 19. Jahrhundert zahlreichen Änderungen unterlag. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die verschiedenen Typen dann nivelliert. Der im italienischen Fach als «tenore di grazia» bezeichnete Stimmtypus war als «ténor de grâce» und Nachfolger des «haute-contre» des 18. Jahrhunderts im Repertoire der Opéra comique zu Hause. Bald bekamen diese zarten Stimmen Konkurrenz durch den Tenor der Grand Opéra. Dieser Konkurrenz versuchte der «ténor de grâce» zu begegnen: Durch die Erweiterung der Mittellage und die Übernahme immer dramatischerer Rollen er immer runder und voluminöser. Gleichzeitig kamen immer weniger rasche Verzierungen vor: sie wurden zu «überflüssigen Schnörkeln» degradiert. Mit «Lakmé» von Delibes, «Roméo et Juliette» von Gounod und «Carmen» von Bizet gab es keine echten Grenzen mehr zwischen den «ténor de grâce» und den «forts-ténors».
Die Partien des Tenortyps «ténor de grâce» zeichnen sich durch eine leichte, anmutige Höhe, ein helles, strahlendes Timbre und eine Vorliebe für Vokalisen aus, die weniger in seinen Lieblingsstücken, den Romanzen, als vielmehr in Duetten mit einem Koloratursopran vorkommen. Der Zuhörer muss auf die Duette leider verzichten, wird aber durch die helle, klare, absolut höhensichere Stimme von Cyrill Dubois mehr als entschädigt.
Exemplarisch sind die Qualitäten seiner Stimme gleich in der ersten Arie, «Asile où règne le silence» aus «La Barcarolle, ou l’Amour et la Musique» (1845) von Daniel-François-Esprit Auber (1782-1871) zu erleben. Die Arie ist Musterbeispiel für den Aufbau einer romantischen grand air mit langsamen erstem Teil und einem zweiten Teil mit mitreissendem Rhythmus: sowohl im im Elegischen wie im Enthusiastischen vermag die Stimme mit wunderbar samtigem Klang und strahlenden Höhen in (musikalisch gesehen) bukolischem Umfeld zu begeistern. Ein wahrer Schatz der frühen romantischen französischen Oper ist die Arie «Maintenant, observons… viens, gentille dame» aus «La Dame blanche» von François-Adrien Boieldieu (1775-1834). Hier triumphiert Dubois mit tiefer lyrischer Emphase, warmer Stimme, perfekten Piani, blendend strahlenden Höhen und mitreissender Musikalität. All das gilt auch für die weiteren Tracks des ersten Teils: «Enfin un jour plus doux se lève» aus «Les mousquetaires de la reine» (1846) von Fromental Halévy (1799-1862) und «Rêvons qu’un plus beau jour» aus «Gibby la cornemuse» (1846) von Louis Clapisson (1808-1866).
Mit Donizettis «La fille du régiment» beginnt sich das Repertoire aufzufächern. Die Regimentstochter verbindet den modernen italienischen Stil mit der Delikatesse der französischen Romanzen: «Ah! Mes amis, quel jour de fête!» (aus «La Fille du régiment» 1840) von Gaëtano Donizetti (1797-1848) ist wohl der bekannteste der eingespielten Tracks. Diesem Prinzip folgen «Ah! Vive Dieu!… Suprême puissance» aus «Le roman d’Elvire» (1860), «Adieu, mignon!„» aus Mignon (1866) und «Fils de roi… point de pitié» aus «Raymond» (1851) von jeweils Ambroise Thomas (1811-1896).
Mit Gounod beginnen sich die Fächer zu vermischen, wofür «Je portais dans une cage» aus «Le médecin malgré lui» (1858), «Humble et pauvre… demande à l’oiseau» aus «Le timbre d’argent» (1864) und «C’est donc ici… ô cruelle» aus «La Jolie Fille de Perth» (1867) stehen. Vollends vermischt haben sich die Fächer in «Prendre le dessin d’un bijou… fantaisie aux divins mensonges» aus «Lakmé» (1883) von Léo Delibes (1836-1891), «Combien de fois j’ai rêvé d’elle» aus «Pedro de Zalamea» (1884) von Benjamin Godard (1849-1895) und «Seul, ai-je dit» aus «Myriane» (1913) von Charles Silver (1868-1949).
Das Orchestre National de Lille unter Pierre Dumoussaud erweist sich als perfekter Sängerbegleiter und begeistert mit einem unbeschreiblichen Reichtum an Farben und Stimmungen, wie es wohl nur ein französisches Orchester kann.
Gerade diese Einspielung zeigt, dass die französische Oper jenseits von Dauerbrennern wie Carmen viel zu selten gespielt wird und vor allem, welcher Verlust damit einhergeht.
Purer Genuss!
10.03.2023, Jan Krobot/Zürich