CD: CONTRALTO – Nathalie Stutzmann, Orfeo 55, Nathalie Stutzmann
Besser geht Barock-Oper nicht!
Das Jahr 2021 beginnt mit einem Barock-Festival der CD-Labels und wird mit Nathalie Stutzmann’s bei Erato erschienen Album «Contralto» nahtlos fortgeführt.
Das Album entführt den Zuhörer schon mit seinem Titel «Contralto» direkt in die Zeit der auf dem Album vertretenen Komponisten wie Georg Friedrich Händel (1685-1759), Nicola Porpora (1686-1768), Antonio Vivaldi (1678-1741), Antonio Lotti (1667-1740), Giovanni Bononcini (1670-1747), Antonio Caldara (1670-1736) und Francesco Gasparini (1661-1727) und zur Frage: Wer oder was ist ein Contralto?
Die Einteilung der menschlichen Stimme in die vier Basis-Stimmlagen Sopran, Alt, Tenor und Bass ist eine «Errungenschaft» der Opern-Neuzeit, also des späteren 19. Jahrhunderts, und der Historisierung der Oper. Noch im Zeitalter des Belcanto, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und vorher sowieso war der Besuch einer Opern-Vorstellung ein gesellschaftliches Ereignis, das von prallem Leben und nicht andächtigem Stillsitzen geprägt war. Man ging in die Oper, um neue Stücke zu erleben: das historische Verständnis der Oper, wie es die Gegenwart an den Tag legt, war unbekannt. Die Komponisten jener Zeit komponierten ihrer Werke den Sängern in die Kehle: Die Besetzung der Uraufführung mit all ihren Stärken und Schwächen war bekannt und so war, für eine Kunstform, die von der Aktualität lebte, die Schaffung eines Ordnungssystems nicht notwendig. Konventionen waren weit wichtiger als in späteren Zeiten, aber innerhalb dieser Konventionen war der Komponist frei. Und wenn es doch Typen-Bezeichnungen gab, bezogen sich diese auf technische Aspekte des Gesangs. Ursprünglich wurde die Bezeichnung «Contralto» für Kastraten («alti artificiali») verwendet, um jene mit tieferen Stimmen von den alti naturali-Falsettisten zu unterscheiden. Die Verwendung des Begriffs ausschließlich für Frauen bildete sich später im 18. Jahrhundert heraus, die Bezeichnung „Mezzosopran“ kam dagegen im 19. Jahrhundert auf.
Ein «Contralto» ist im 18. Jahrhundert also eine tiefe Frauenstimme. Nathalie Stutzmann, die Solistin des Albums, hat die Stimmlage «Contralto», im heutigen Sprachgebrauch also Alt.
Neben den Kastraten in den Heldenrollen waren im gesamten 18. Jahrhundert Frauen mit tieferen Stimmen ebenso wie jene mit hohen in vielfältigen Rollen auf der Bühne erfolgreich. Mach eine diente den Komponisten, mit denen sie arbeiteten als Musen.
Anna Girò (um 1710-nach 1748) war Schülerin und später Muse Antonio Vivaldis. Sie kreierte zahlreiche Rollen für Vivaldi und ist auf der Aufnahme mit „Svena, uccidi, abbatti, atterra“, der Schlussarie aus Bajazet (RV 703; 3. Akt, Szene 14) vertreten. Sie war keine Virtuosin, sondern überzeugte mit ihrer intensiven Darstellungskunst. In vielen Opern trat zusammen mit Maria Maddalena Pieri (1683-1753) in «partnerschaftlicher Rivalität» auf. Pieri schien sich auf Männerrollen spezialisiert zu haben und verkörpert zum Beispiel in der Uraufführung von Vivaldis Farnace (1726) und Bajazet (1735) die Titelrollen («Gelido in ogni vena» Farnace (RV 711 2. Akt, Szene 6)). Anna Maria Fabbri, die ebenfalls häufig mit Vivaldi zusammenarbeitete, hatte gleichermassen mit Frauen- wie Männer-Rollen Erfolg. Vittoria Tesi (1701-1775) gehörte ebenfalls zur Gruppe der Sängerinnen mit grosser Rollenvielfalt. “Tradita, sprezzata” (Nicola Porpora, Semiramide riconosciuta; 2. Akt, Szene 12) und “Mira d’entrambi il ciglio” (Nicola Porpora, Statira; 1. Akt, Szene 13) lassen erahnen, dass ihr der Ausdruck der Gefühle eher lag als die Virtuosität. Francesca Vanini-Boschi (gestorben 1744) arbeitete mit Händel in Italien wie später in England zusammen. 1711 sang sie in der Uraufführung von Händels «Rinaldo» die Rolle des Goffredo. Goffredos Arien „Mio cor, che mi sai dir?“ (Rinaldo HWV 7; 2. Akt, Szene 3) und “Sorge nel petto” (Rinaldo HWV 7; 30 Akt, Szene 4) legen davon Zeugnis ab, dass ihre Stimme auch gegen Ende ihrer Karriere immer noch tadellos in Form war. Anna Vincenza Dotti (um 1695-nach1728), Francesca Bertolli (1710-1767) und Anna Maria Antonia Bagnolesi waren die weiteren Contraltos, mit denen Händel bei Tamerlano (“Dal crudel che m’ha tradita” (Tamerlano HWV 18; 1. Akt, Szene 8)), Arminio („Sento il cor per ogni lato“ (Arminio HWV 36; 1. Akt, Szene 6)) und Sosarme (“Vado, vado al campo” (Sosarme, re di Media HWV 30; 2. Akt, Szene 12)) zusammenarbeitete.
«Contralto» konnten durchaus auch Hauptrollen übernehmen, so Anna Marchesini in Francesco Gasparinis «La fede tradita e vendicata». Die Arie “Empia mano” (2. Akt, Scene 13) der Ermelinda ist elegant und offen gehalten mit genügend Raum für Verzierungen. „Di verde ulivo“ (Tito Manlio RV 738; 1. Akt, Szene 10) zeigt, wie sehr die Komponisten, hier Vivaldi, auf die Fähigkeiten ihrer Sängerinnen eingingen. Anna Maria d’Ambreville-Perroni (“Torbido intorno al core” aus Nicola Porporas «Meride e Selinunte», 2. Akt, Szene 13) und Anastasia Robinson (1695-1755, „Caro Addio, dal labbro amato“ aus Giovanni Bononcinis «Griselda», 2. Akt, Szene 10) gehören zu jenen Sängerinnen der Zeit, die trotz – oder vielleicht auch wegen – ihren tiefen Stimmen erfolgreich Hauptrollen gestalteten.
Die vom 27.01. bis 02.02.2019 im französischen Arras eingespielte Aufnahme wirkt schlicht elektrisierend und lässt den Zuhörer nicht mehr los, bis das Album, 21 Nummern und 6 Bonus-Nummern, durchgehört ist.
Nathalie Stutzmann interpretiert die verschiedenen, im klugen Booklet bestens aufbereiteten Nummern, mit ihrer phänomenalen Stimme schlicht perfekt. So wird klar, warum Barock-Oper süchtig macht.
Das von Stutzmann selbst gegründete und geführte Ensemble 55 ist ihr eine kongenialer Partner. So farbig, saftig, kräftig und lebendig hört man diese Musik selten. Umso trauriger stimmt es, dass das Ensemble auf Grund fehlender finanzieller Unterstützung und Subventionen aufgelöst werden musste. Ein würdiger Abschied.
Besser geht Barock-Oper nicht!
17.01.2021, Jan Krobot/Zürich