CD CONRAD DEL CAMPO: Streichquartette Nr. 8 und 9; QUATUOR DIOTIMA; MarchVivo
Weltersteinspielungen – Live aus der Fundación Juan March, Madrid 2022/2024
MarchVivo ist ein spanisches Label, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, neue ästhetische Klangerfahrungen zu ermöglichen und das mit selten aufgeführtem Repertoire vom Mittelalter bis zu Zeitgenössischem. Auf dem Programm des neuen Albums stehen die Streichquartette acht und neun eines spanischen Komponisten, der kaum bekannt ist. Und dennoch war dieser Conrado del Campo einer der originellsten und spannendsten musikalischen Köpfe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien. Seine Streichquartette sind den Versuch, die Ohren für eine musikalische Begegnung weit zu öffnen, auf jeden Fall wert.
Das achte Streichquartett wurde 1913 vollendet, am Ende einer ersten kreativen Phase des Komponisten. Dessen Nachfolger Nummer neun wurde erst an die 30 Jahr später, nämlich 1942, fertig. Conrad del Campo war als Bratschist Mitglied des Cuarteto Francés. Für dieses Ensemble begann er ab 1903 Streichquartette zu schreiben. Die Quartette eins, zwei vier und fünf wurden zwischen 1903 und 1908 tatsächlich vom Cuarteto Francés aufgeführt. Das Dritte blieb in der Probephase stecken, die anderen drei von acht bis dahin vollendeten Stücken hat das eigene Quartett nie gespielt.
Das dürfte mit ein entscheidender Grund dafür gewesen sein, dass er ab 1913 erst einmal mit diesem Genre pausierte. Im Hauptberuf war del Campo erster Bratschist des Orchesters des Teatro Real Madrid, dem er 25 Jahre lang angehören sollte. Da hatte er alle Hände voll mit Opern zu tun, wobei es ihm die Musikdramen Richard Wagners besonders angetan hatten. Kein Wunder also, dass del Campo, der sich ab 1909 dazu entschloss, Opern und Zarzuelas zu komponieren (es sollten insgesamt 22 werden), in seinen (frühen) Streichquartetten einen besonders dramatisch, ja effektvoll inszenierten Stil pflegte.
Das ganz in spätromantischer Manier erklingende Streichquartett Nr. 8 in E-Dur hat den Tod der eigenen Mutter zum Hintergrund. Wir hören eine (melancholische) Erinnerungsmusik gewissermaßen, zu der der Komponist pathetisch reflektierte, dass die Gegenwart nur flüchtige Chimäre sei und das bittere Leben nur beschönige, was vergangen, was schon weit weg ist. Anklänge an Tristan und Isolde, an das kunstvoll verwobene Streicherflirren von R. Strauss und die Fugenkunst Max Regers sind nicht zu überhören, bilden den Ausgangspunkt zu einer kompositorisch höchst abwechslungsreichen und frei fluktuierenden, fantasievollen musikalischen Sprache, die im trauervollen Scherzo zudem mit dichten kontrapunktischen Durchführungen überrascht. Allerdings gesteht sich del Campo ungeachtet dieses pessimistischen Grundtons für das Allegro muy animado y alegremente en carácter popular zu, Volksweisen lichtvolle und positiv durchwirkte Momente zu verdanken. Verklärte Vergangenheit im Filter kontrastierender Emotionen, notabene baskischer Folklore. Gänzlich durchbrochen wird die Düsternis der um den Tod kreisenden Gedanken im vierten Satz. Der Bezeichnung des Satzes als Allegro moderato, muy decidido, ritmico, vehemente entsprechend, darf programmatisch empfunden, die Erinnerung nicht alleine über unser Sein bestimmen. Sie soll und kann uns alternativ auch zu Enthusiasmus und Energie verhelfen, uns zu größerer Lebensfreude animieren. In satten Farben und kontrapunktischer Meisterschaft lässt del Campo die klar bezeichneten Stimmungen des Satzes Revue passieren.
Das Intermezzo-Scherzo auf den Namen Mi-la-nes, wahrscheinlich 1941 entstanden, geht zurück auf den britischen Konsul in Madrid John H. Milanes. Der hatte als kunstsinniger Diplomat immer wieder zu musikalisch-literarischen Soiréen gebeten. Das Hauptthema besteht aus den Noten E-A-Es (mi-la-Es). Das kleine kammermusikalische Stück könnte als Dank für die Hilfe des Diplomaten bei der Auffindung von Ricardo del Campo, dem Sohn des Komponisten, gewesen sein, der während des Bürgerkrieges in Barcelona verhaftet wurde.
Erst nach Ende dieses Bürgerkrieges kam die Produktion an Streichquartetten wieder in die Gänge. Das neunte Quartett (‚Apasionado‘) ist Zeuge dieser neuen kreativen Phase, die sich durch eine engere formale Disposition und grosso modo eine quicklebendige Zuversicht auszeichnete. Ganz konnte del Campo den auf Wagner verweisenden Opernschreiber auch in diesem späten Werk nicht verleugnen, dessen erster und dritter Satz lyrisch energetisch mit allerlei wirkungssicheren Kontrasten Würfelpoker spielt. Obzwar ausgesprochen quirlig und artikulatorisch experimentell, ist die Musiksprache und das dichte kompositorische Gewebe dennoch ganz den Ausläufern einer spätromantischen Schule verhaftet.
Das Proyeto Conrado, 2021 aus der Taufe gehoben, hat es sich unter anderem gemeinsam mit dem Quatuor Diotima, zur Aufgabe gemacht, alle 13 Streichquartette des Komponisten zu editieren (die meisten davon zum ersten Mal überhaupt), aufzuführen und sodann auf Tonträger zugänglich zu machen.
Das 1996 in Paris gegründete Quatuor Diotima (Yun-Peng Zhao Violine, Léo Marillier Violine, Franck Chevalier Viola, Alexis Descharmes Cello), das für seine Erkundungen der deutschen Romantik bis zu einer gemäßigten Avantgarde zu Recht gerühmt wird, wirft sein immenses technisches Können, alle Leidenschaft und Unbedingtheit eines der Wahrhaftigkeit verpflichteten Musizierens in die Waagschale, um den Werken des Conrado del Campo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es handelt sich dank dieser interpretatorischen Exzellenz um eines der aktuell aufregendsten kammermusikalischen Entdeckungsabenteuer. Die Schönheit der Quartette, ihr irisierendes Schillern und temporeiches emotionales Oszillieren begeistern und überzeugen mich bei jedem Hören mehr.
Volle Empfehlung abseits des Mainstreams.
Dr. Ingobert Waltenberger