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CD CLAUDIO MONTEVERDI – VESPRO DELLA BEATA VERGINE, Pygmalion, Raphaël Pichon; harmonia mundi

Dr. Ingobert Waltenberger

11.10.2023 | cd

CD CLAUDIO MONTEVERDI – VESPRO DELLA BEATA VERGINE, Pygmalion, Raphaël Pichon; harmonia mundi

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„Die Partitur ist überaus fein ausgearbeitet, sie ist wie ein Uhrwerk und zeugt von höchster Meisterschaft im Umgang mit Harmonik und Form, aber auch von theologischem Sachverstand. Dabei lässt sie uns Interpreten unbedingt auch Freiräume….Für mich ist die Marienvesper der erste Kinofilm der Musikgeschichte.“ Raphaël Pichon

Über die Urgründe der Entstehung und mögliche Widmung der verschiedenen, 1610 als „Vespro della Beata Vergine“ gedruckten geistlichen Kompositionen ist viel spekuliert worden. Es war die Rede davon, dass Monteverdi den prachtvollen Zyklus für die Hochzeit des Kronprinzen Francesco Gonzaga bzw. für die Taufe von dessen Tochter Maria geschrieben hätte. Ob diese Varianten zutreffen oder ob die Musik doch für die Heilige Barbara (die aus der Druckfassung herauszulesende Aufstellung eines Doppelchors um eine Orgel herum träfe genau auf die räumlichen Gegebenheiten der Basilika St. Barbara zu) verfasst worden war, wissen wir nicht. Die erste Aufführung fand am 25. Mai 1610 anlässlich des Verkündigungsfestes in der Basilika St. Barbara statt.

Allerdings spricht die in der Sammlung zu findende Aneinanderreihung von fünf Psalmen (Dixit Dominus, Laudate Pueri, Laetatus sum, Nisi Dominus, Laude Jerusalem), eines Magnificat (2 Versionen) und des Hymnus „Ave Maris Stella“ dafür, dass der Komponist die (für unterschiedliche Zwecke) geschriebenen Chorwerke als „Marienvesper“ gesamt konzipiert hat. Mit der Veröffentlichung wurde Musikern der Kapellen oder fürstlichen Gemächer zudem ein umfassendes Angebot zur Verfügung gestellt, aus denen je nach liturgischem Anlass und verfügbaren Sängern ausgewählt werden konnte.

Denn der eminente Anspruch an die Virtuosität der Ausführenden lässt darauf schließen, dass die Vokalisten und Instrumentalisten sich mehrheitlich aus professionellen Solistenensembles rekrutiert hatten. Der Psalm „Laudate Pueri“ ist ausdrücklich für acht Solostimmen mit Orgel bestimmt.

Gesellschaft und Kirche waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts eng miteinander verknüpft, sie rivalisierten jedoch miteinander um die größtmögliche Prachtentfaltung. Musikhistorisch sind die „Vespro della Beata Vergine“ im Dreieck Mantua, Venedig und Rom (Widmung der Vokalstimmen an Papst Paul V.) anzusiedeln. Als Solomotetten gestaltete Concerti sacri verbinden sich mit komplexen polyphonen Strukturen. Kontrapunktische Gesänge über einem cantus firmus münden in ein Dialogisieren von Singstimmen und Instrumenten in verblüffenden, ganz im Zeichen höfischen Glanzes stehenden Kombinationen. Der Theatermann Monteverdi nutzte alle modalen, tonalen und chromatischen Techniken, vokal u.a. extrem hohe Lagen, halsbrecherische Koloraturen und Echoeffekte, die er für seine Bühnenwerke erfand („stile rappresentativo“), um die Ausdruckspalette und räumliche Wirkung der bildhaft-spirituellen Poesie auf die Spitze zu treiben.

Das Großartige an den verschiedenen Aufnahmen von Werken des Claudio Monteverdi und natürlich auch der „Marienvesper“ besteht darin, dass Interpreten vielfach freie Hand haben und neben Text, Notation und vorhandener Instrumentierung subjektive Entscheidungen im Hinblick auf Dynamik, Tempo, Verzierungen von Kadenzen, Rhetorik und Deklamation treffen müssen.

John Eliot Gardiner betont in seiner Aufnahme das tänzerisch-geschmeidige der Musik, ihre Leichtigkeit bei duftiger Instrumentalbegleitung, Jordi Savall legt den spirituellen Kern der Musik frei und hat die fantastischen Sopranistinnen Montserrat Figueras und Maria Cristina Kiehr als Atout, während Raphaël Pichon in den Psalmen primär das Theatralische der Musik hervorkehrt, nach plastischen Entsprechungen von vielfältigen menschlichen Emotionen zwischen dem irdischen und spirituellen Leben sucht.

Pichon sieht die Partitur „als Landkarte, die in verschiedene Räume unterteilt ist, die man entziffern und erfassen muss, um den unendlichen Reichtum der Musik zu entdecken.“ So hat er sich dazu entschieden, sowohl im „Laude Jerusalem“ als auch im „Magnificat“ die original hohen Lagen bei der damaligen hohen italienischen Stimmung (440-465 Hz) beizubehalten und nicht – wie dies damals nicht unüblich war – mittels sog. kleiner Schlüssel („chiavette“) bestimmte Nummern um eine Quart nach unten zu transponieren.

Ich finde, dass Pichon mit seinem Instrumental- und Vokalensemble Pygmalion der beste Chor aller Aufnahmen, die ich kenne, zur Verfügung steht. Pichon verfügt über ein feines Ensemble an hervorragenden Solisten: Cécile Scheen, Perrine Devilliers (Sopran), Lucille Richardot (Mezzo), Emiliano Gonzales Toro, Zachary Wilder, Antonin Rondepierre (Tenor), Étienne Bazola, Nicolas Brooymans und Renaud Brés (Bässe). An Instrumentarium hören wir neben Streichern Blockflöten, Dulcian, Kornett, Barockposaune, Theorben, Tiorbino, Harfen, Cembalo und Orgel. Die geschärfte Rhetorik, das schwindelerregende Weg- und Heranzoomen der Klangteppiche, eine in schillernden Facetten gestaltete Expressivität kommen der kosmischen Dimension der Musik, der „Resonanz eines uralten kollektiven Gedächtnisses“ (Jean-Clément Guez, Rektor der Kathedrale Saint-André von Bordeaux) zugute.

Außerdem ist die Aufnahmetechnik unvergleichlich brillant und wartet räumlich mit einer beinahe dreidimensionalen Wirkung auf. Empfehlung!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

 

 

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