CD CLAUDIO MONTEVERDI: L‘ORFEO – Ensemble vocal de poche, I GEMELLI; Naive
Favola in musica rappresentata in Mantova l‘anno 1607 – heute so umwerfend gut wie am ersten Tag
Hans Hotter hat einmal bei einem Interview im Theater an der Wien auf die Frage, warum er so oft die Winterreise gesungen hätte, geantwortet, man könne die Wahrheit nicht oft genug sagen. Das trifft auch auf Monteverdis Opern-Geniestreich L‘Orfeo zu. Wer den Palazzo Te der Gonzagas in Mantova kennt, der wird auch die Musik Monteverdis fest verankert in der Renaissance verorten. Alles dreht sich um Regelmaß und Harmonie, Proportionen, Symmetrie, Perspektiven. Die Arie des Orfeo im dritten Akt befindet sich exakt am Zenit des über die Oper gespannten Bogens. Die Affekte in Orfeo bewegen sich ganz anders als die manieristischen Auswüchse des Barock (unendliche Koloraturen, exzessive Gurgelartistik) in einer monumentalen, geometrisch gedachten Struktur. Musik und Text dieser göttlichen Geschichte stehen in vollkommener Symbiose.
Der Halbgott Orfeo, Sohn des Apollo und der Nymphe Calliope, singt so herzergreifend schön, dass er sogar den Hades erweicht und final die von Menschen gemachte Musik mit der Harmonie der Sphären versöhnt. Im fünften Akt, nachdem er Euridice ein zweites Mal aus eigener Schuld (Nicht umdrehen hieß die Bedingung des Pluto) verloren hat, steigt Apollo wegen der elementaren Urgewalt des Lamento seines Sohns auf die Erde herab. Apollo nimmt Orfeo mit in den Olymp, wo er Euridice als Sternbild nahe sein darf. Nymphen und Schäfer feiern den Aufstieg des Orfeo und damit der Musik und des Gesangs in himmlische Gefilde. Höchste Liebe sublimiert in höchste Kunst.
Die neue Aufnahme aus Montpellier vom Jänner 2020, bereits Ende 2019 in Paris und Toulouse erprobt, ist ein Wurf. Schon die einleitenden Fanfaren sind ein Naturereignis. Das Instrumentalensemble I Gemelli und das Ensemble Vocal de Poche erwecken diesen Orfeo zu überirdischem Wohllaut. Folgen wir den Sternen dieser Aufführung, die einmal nicht vom Cembalo aus geleitet werden. Da die Musik ganz in der poetischen Vorlage aufgeht, heißt das, dass die Dynamik ganz von der Deklamation herrührt. Die Divos und Diven der Uraufführung waren nicht nur die besten Gesangsvirtuosen ihrer Zeit (u.a. Francesco Rasi, Giovanna Gualberto), sondern beherrschten auch meisterlich die Harfe oder die Laute, auf denen sie sich selbst begleiten konnten. Das Orchester, ganz der Rhetorik unterworfen, wird in Wahrheit wie eine Erweiterung des begleitenden Soloinstruments behandelt. Die vorliegende Interpretation basiert diesem Prinzip folgend auf einem ständigen Dialog zwischen der Stimme und seiner Begleitung, somit auf einer Fusion des Diskurses zwischen Bühne und Graben. Der Sänger des Orfeo, Emiliano Gonzales Toro, Leiter von I Gemelli, ist somit auch das musikalische Zentrum der Aufführung.
Das Ergebnis ist frappierend lebendig und ungemein elastisch. Das gesamte großartige, jedem Renaissancefürsten mehr als würdige Ensemble zieht an einem Strang: Neben dem ausdrucksstarken Tenor von Emiliano Gonzales Toro hören wir Emöke Baráth als Eudirice (Musica), Natalie Pérez als Messaggiera, Alix de Saux als Speranza (Pastore III), Jérôme Varnier als Caronte (Spirito), Mathilde Etienne als Proserpina, Nicolas Brooymans als Plutone (Pastore IV), Fulvio Bettini als Apollo (Spirito, Eco), Zachary Wilder als Pastore I (Spirito), Juan Sancho als Pastore II (Spirito) und Elicia Amo als Ninfa.
Ein 100 Seiten starkes Booklet (leider nur in französischer und englischer Sprache) enthält das komplette Libretto, Künstlerporträts und musikwissenschaftliche Aufsätze von Mathilde Etienne und Emiliano Gonzales Toro.
Fazit: Die neue Referenzaufnahme dieser Oper.
Dr. Ingobert Waltenberger