CD CLAUDIO MONTEVERDI „L’INCORONAZIONE DI POPPEA“ – Neapolitanische Fassung 1651 – Andreas Reize dirigiert das cantus firmus consort; Rondeau Production
Die berühmteste und sagenhafteste unter den ersten Opern der Musikgeschichte stellt wohl die auf allen Ebenen der Gesellschaft tanzende „L’Incoronazione di Poppea“ dar. Monteverdi and friends haben die Musik geschrieben. Es gibt zwei erhaltene Handschriften, eine aus Venedig und eine umfänglichere aus Neapel. In diesen Manuskripten finden sich die vom Generalbass gestützten Gesangslinien basierend auf einem Libretto von Busenello, wo sich rezitativische mit affektbetonten und ariosen Abschnitten abwechseln.
Viele der auf Bühne bzw. für Schallplatten verwendeten Fassungen bieten entweder hauptsächlich die venezianische Fassung ab oder liefern ein Mischbild aus beiden Welten, weil etwa die grandiose Krönung der Kaiserin oder bestimmte Texte nur im Manuskript von Neapel überliefert sind.
Mit dieser im Zuge der Inszenierung auf Schloss Waldegg /Solothurn im Sommer 2021 entstandenen Aufnahme rühmt man sich, die erste vollständige Einspielung der insgesamt seltener gespielten Neapel-Fassung von 1651 realisiert zu haben.
Die sich teils auf historisches Personal gründende Liebesgeschichte zwischen dem mörderischen Kaiser Nero und seiner ehrgeizigen Mätresse Poppea ist dank des unermüdlichen Einsatzes von Musikerpersönlichkeiten wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner Opernafficionados rund um den Globus bestens bekannt. Der Witz der Sache ist es gerade, dass das venezianische Volks-Theater zur Entstehung der Oper gerade mal 250 Personen fassen konnte und die Musiker in der Kunst der Improvisation hoch erfahren waren. Die Figuren wurden von singbegabten Schauspielern verkörpert. „Recitar cantando“ nennt sich der so entstandene eigentümliche Vortragsstil, mit dem sehr textbezogen vor allem die Ambivalenz der Gefühlswelten und Aktionen der Protagonisten, das Oben und Unten gleichermaßen Verkommene der Gesellschaft, in aller Drastik gedeutet werden konnte. Ohne eine solche alle Widersprüche lebende Ironie wird keine Aufführung auskommen.
Andreas Reize, seit September 2021 Thomaskantor in Leipzig, dirigiert sauber und mit aller Sorgfalt, er kümmert sich liebevoll um die kleinsten Details in Gesang und instrumentaler Begleitung. Das ergibt ein homogenes und immer auf die stupende Schönheit der Musik und des Klangs abzielendes Musizieren. Reize entführt uns in sein persönliches Monteverdi-Hochamt, elegische Weiten bedient er besser als das Drastisch-Theatralische der Handlung. Ich höre hier eher ein stoisch zelebriertes dramatisches Oratorium als eine auf extreme Schürzungen bedachte Oper mit all ihren scharfen emotionalen Kontrasten, mit ihrer höfischen Etikette, verlogen bis zum Anschlag, ihren Dung und Vulgarität ausatmenden Dienern und Ammen. Die vier Stunden Aufführungsdauer können sich so leider schon recht lang anfühlen.
Diese vornehme Zurückhaltung in der Interpretation betrifft auch einen Teil des Ensembles. Gerade die beiden Hauptdarstellerinnen des Stücks, Pia Davila als Poppea und Elvira Bill als Nero, sind so sehr um puren Wohlklang bemüht, dass sie als Bühnenpersonen blass bleiben. Das heißt, perfekte Gesangsleistungen sind es nicht allein, die den Zauber des Monteverdischen Kosmos ausmachen. Poppea etwa sollte vor dummdreister Durchtriebenheit und billig erotischer Attitüde nur so triefen, ihr Bestreben nach dem Höchsten macht sie schließlich doppelt tragisch zum Opfer: Bald nach der gloriosen Hochzeit wird sie hochschwanger von Nero erschlagen.
Wie es auch anders gehen kann, führen uns vor allem der italienisch-französische Charaktertenor Sébastian Monti in den beiden Rollen als Nutrice und Arnalta und der argentinische Bass und Alte Musik Spezialist Lisandro Abadie als Seneca vor. Welch prall plastische Charaktere, welch Bühnengeruch, erreicht durch deklamatorische Prägnanz und dem gekonnten schillernden Spiel mit Stimmfarben aller Art. Auch Genviève Tschumi als Ottavia vermag dem erwartungsvollen Publikum im Wohnzimmer mit ihrem individuell timbrierten Mezzo, einem Füllhorn an expressiver Gestik und einer beeindruckenden Vielfalt an situationsbedingt vokalen Abschattierungen ein Stimmporträt der betrogenen und gekränkten Kaiserin wie aus einem Guss zu schenken. Der andere Hahnrei der Geschicht‘, der Krieger und Gemahl der Poppea, Ottone, wird vom jungen Altisten Jan Börner mitfühlend gestaltet und exzellent gesungen. Ihm eine glänzende Zukunft vorauszusagen, fällt nicht schwer. In weiteren Rollen hören wir Kathrin Hottiger (Fortuna, Palade, Damigella), Julia Sophie Wagner (Virtù, Drusilla, Venere), Marion Grange (Amore, Valletto), Michael Feyfar (Primo Soldato, Lucano, Console), Hans Jörg Mammel (Secondo Soldato, Liberto, Console), Tobias Wicky (Mercurio, Littore) und Luca Domina (Cantore di Coro).
Das cantus firmus consort spielt technisch ohne Fehl und Tadel. Wie schon gesagt, fehlt es insgesamt bei allem Verdienst um Vollständigkeit und feingliedriges Musizieren an Spannung und spontan gefühlter Unmittelbarkeit der Aktion.
Dr. Ingobert Waltenberger