CD CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK: IPHIGÉNIE EN AULIDE – Gesamteinspielung mit van Wanroij, D’Oustrac, Dubois, Christoyannis, Bou, JULIEN CHAUVIN dirigiert Le Concert de la Loge; alpha
„Wir haben uns auf Phrasierung, Konturierungen und Akzente konzentriert, um den Melodielinien eine besondere Physiognomie zu verleihen, die das für den französischen Stil charakteristische Zurückprallen des Bogens mit der Energie des österreichisch-ungarischen Stils verbindet, den Gluck mit Haydn, Mozart und Salieri teilte.“ Julien Chauvin, Benoit Dratwicki
Die tragédie opéra en trois actes „Iphigénie en Aulide“ aus dem Jahr 1774 ist wieder à la mode. Im Sommer 2024 wurde sie auf Schloss Rheinsberg in Brandenburg gespielt, das französische Festival d’Aix-en-Provence zeigte dieses Jahr gleich „Iphigénie en Aulide“ und „Iphigénie en Tauride“ zusammen, und zwar in der Regie von Dmitri Tcherniakov.
Die neue Aufnahme vom Oktober 2022 hat der für seine zupackenden Interpretationen Alter Musik zu Recht gerühmte Dirigent Julien Chauvin mit dem von ihm 2015 gegründeten Orchester Le Concert de la Loge und dem Profichor Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles (Leitung. Fabien Armengaud) realisiert.
Dem Album liegen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse betreffend den „richtigen Stil“ zugrunde. Man hat lt. Chauvin versucht, mit der Besetzung so weit wie möglich den stimmlichen und schauspielerischen Charakteristika und Fähigkeiten der damaligen Sänger nahezukommen. Die genaue Orchesterbesetzung der Pariser Oper von 1774 konnte zwar nicht rekonstruiert werden, dafür wurde im Detail am Unterschied zwischen “Vorschlägen á la française in gefühlvollen Passagen und auf kurze, rhythmisch prägnante Vorschläge in Orchesterstücken und lebhafteren Sätzen“ gefeilt. Die Rezitative werden im vorliegenden Album frei deklamiert, der musikalische Fluss wird durch die üblichen Intensitätsakzente aufgelockert. „Schließlich haben wir die sogenannte barytonische Betonung der Verse (auf der ersten Silbe) wieder eingeführt, die in der tragischen Rezitation so viel gewandter wirkt.“, plaudert Chauvin aus dem Nähkästchen der Entstehung.
Bezüglich der Frage der Tempi ist zu ergänzen, dass nach einer genauen Analyse von Glucks Anmerkungen evident wurde, dass der Komponist „einen durchgehenden dramatischen Fluss, schnelle Tempi und einen einheitlichen Rahmen“ wollte, in dem Unterbrechungen Effekte und nicht die Norm sind. Genau das gibt der Aufnahme Spannung, Biss und Kante. Dies gesagt, sind auch schon die wichtigsten Vorzüge angesprochen. Glucks Musik federt und atmet unter der rhythmisch präzisen wie lebendig artikulierenden Zeichengebung des Julien Chauvin. Natürlich liegt der Lesart der reformatorische Geist des Komponisten zugrunde, also weg von den Dacapo Arien, weg von exhibitionistischer vokaler Artistik, keine Freiheit der Sänger bei Verzierungen.
Ich habe Glucks Reformopern seit jeher geschätzt wegen ihrer die scheinbare Strenge durchlichtenden psychologischen Passgenauigkeit der Charaktere und der im Wesentlichen einer den Wortsilben folgenden Kompositionsweise, die ohne die ermüdenden barocken secco Rezitative auskommt.
In seiner Adaption der französischen tragédie lyrique betont der Lully-Bewunderer Gluck bekanntlich die Mischung aus Musik, Gesang und Tanz, die Abkehr von Nummern zugunsten längerer dramatischer Einheiten und die dramaturgisch tragende Rolle des Chors. Anstelle von Prolog und einer bis dahin üblichen fünfaktigen Struktur bevorzugte Glück dreiaktige Opern.
Nach der verhaltenen Wiener Reaktion auf seine Oper „Paride ed Elena“ in Wien, war „Iphigénie en Aulide“ Glucks erste Oper nach dessen Umzug nach Paris. Die Handlung nach Racines Tragödie (1674) konzentrierte Librettist Du Roullet bewusst auf das Thema der Opferung der Iphigénie durch ihren Vater Agamemnon und eine Handvoll weiterer handlungstreibender Personen.
Gesungen wird in der vorliegenden Aufnahme sehr gut bis exzeptionell. Das beginnt bei Judith van Wanroijs Iphigénie, die ihren lyrischen Sopran wortgewandt in den Dienst der opferbereiten jungen Frau stellt, ohne jedoch mit besonderer Süße oder Seide im Timbre im Innersten berühren zu können. Die sie vor dem von Diana als Preis für günstige Winde nach Troja verlangten Todesopfer schützen wollende Clytemnestre findet in der Mezzosopranistin Stéphanie D’Oustrac eine die verschiedenen Seelenlagen einer Mama in Not differenziert ausleuchtende Sängerin. Im hochdramatischen Rezitativ „“Dieux puissants que j’atteste“ sowie der vor verzweifelter Wut glühenden Arie „Jupiter, lance la foudre“ im dritten Akt beeindruckt D’Oustrac mit elementarem Furor, ohne ins Monströse abzugleiten. Ihr zwischen Staatsraison und Tochterliebe schwankender Ehemann, König Agamemnon, wird von Tassis Christoyannis typgerecht und mit vielen väterlichen Zwischentönen vokal einschmeichelnd verkörpert. Die vollkommenste vokale Leistung des Albums kommt vom unvergleichlichen Tenor Cyrille Dubois als Iphigénies Verlobter Achille. Der frz. Bariton Jean-Sébastien Bou als Calchas, David Witzcak (Patrocle, Arcas, un Grec), Anne-Sophie Petit (1ère Greque), Jehanne Amzal (deuxième Greque) und Marine Lafdal- Franc (troisième Greque) ergänzen das Ensemble hervorragend.
Für „Gluckisten“ und diejenigen, die es noch werden wollen, ein musikalisch rundum gelungenes, vokal überwiegend überzeugendes Album.
Dr. Ingobert Waltenberger