CD CHRISTOPH GRAUPNER „ANTIOCHUS UND STRATONICA“ – Weltersteinspielung aus dem Sendesaal Bremen vom Jänner 2020 mit dem Boston Early Music Festival Orchestra unter Paul O‘Dette & Stephen Stubbs; cpo
“Und sind die Opern noch so schön/ wenn Arlechino nicht sein Amt dabei verricht/ So können sie doch nicht bestehen.” Narr Negrodorus in “Antiochus und Stratonica”
Spektakuläre Hamburger Barockoper über die Liebe eines Prinzen zu seiner Stiefmutter
Hamburg 1706: Die Oper am Gänsemarkt war das größte und prächtigste Opernhaus Europas. Der gerade einmal 23 Jahre junge Graupner wurde dort Cembalist und war von wahrlich begabten Kollegen wie Johann Mattheson, seinem Chef Reinhard Keiser und Christian Schifferdecker umgeben. Georg Friedrich Händel hatte sich karrierebedingt gerade nach Italien aufgemacht und eine Riesenmenge an frischen Kompositionen in Hamburg zurückgelassen. 1709, als Graupner vom Landgrafen Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt abgeworben wurde, konnte er auf eine sehr beachtliche Opernbilanz von nicht weniger als fünf Hamburger Opern verweisen. Nach der Konventionen auf den Kopf stellenden “Dido, Königin von Karthago” und der verschollenen Oper “Bellerophon” schrieb Graupner auf ein Libretto von Bartoli Feind die nun bei cpo publizierte, zwischen Komödie und Rührstück changierende Oper “Antiochus und “Stratonica”.
Strippenzieher in dem komplexen Delirium an Liebesirrungen und -wirren ist der unverschämte Diener/Narr Negrodorus (Jan Kobow), der direkt ans Publikum gewandt behauptet, dass die Oper einen wie ihn benötige, wenn sie einschlagen solle und dessen Auftritte überwiegend mit Cembalo, Gitarre und Fagott begleitet werden. Daneben gibt es jede Menge an Zauberei, einen Reigen an erotischen Leidenschaften und in seelischen Leiden schaumbadenden Arien.
Die musikalischen Leiter des Unterfangens, Stephen Stubbs und Paul O’Dette, weisen darauf hin, dass “einer der faszinierendsten Aspekte der Partitur neben ihrer Schönheit, ihrem Reichtum und ihrer Vielgestaltigkeit die emotionale Stimmung ist, die das Werk aus der gewohnten Opernarena heraushebt und in ein Territorium versetzt, das man gemeinhin eher mit dem Oratorium verbindet.” Leider kommt in der Partitur kaum etwas von der Tanzmusik vor, die im Libretto vermerkt ist. Man behalf sich flinkerweise so, das Fehlende aus Graupners schillernden theatralischen Orchestersuiten zu ergänzen.
Die Handlung ist typisch barock, d.h. äußerst komplex mit Haupt – und Nebenhandlungen. Da gibt es die persische Prinzessin und Zauberin Mirtenia (Sunhae Im), die den Schatzmeister Demetrius (Aaaron Sheehan) liebt, der mit Ellenia (Sherezade Panthaki) verheiratet ist. Dieser Demetrius kann sich aber nicht zwischen den beiden schönen Frauen entscheiden, wie denn auch?
Da ist dann noch der verwitwete König Seleucus (Harry van der Kamp) mit seiner jungen Zweitangetrauten Stratonica (Hana Blažíková), seinem Sohn Antiochus (Christian Immler) und dem Chirurgen Hesychius (Jesse Blumberg). Der arme Antiochus ist von der erotischen Ausstrahlung seiner Stiefmutter dermaßen überwältigt, dass er nach einem sehr /zu langen Handkuss ohnmächtig in die Knie sinkt.
Stratonica selber will nicht wissen, warum ihr Stiefsohn unheilbar krank sein soll und es ihm so schlecht geht. Er gefällt ihr aber auch ausnehmend gut und sie rät ihm ahnungsvoll, alle riskanten Liebesgedanken zu verbergen. Der Narr genießt einstweilen ein Fest des Königs, wo er auf seinem Tisch Köstlichkeiten aller Art auftürmt. Als die Zauberin ihn mit verführerische Visionen umnebelt, kann er am Ende nur einen Affen, einen feuerspeienden Drachen und einen Riesen erkennen. Fazit: In der Liebe ist nichts so, wie es scheint.
Antiochus steigert sich immer tiefer in die aussichtslose Liebe zu Stratonica, ehe er sie schließlich in wahnwitziger Raserei eine Tyrannin nennt, der nach Mord und Brand gelüstet. Auch Ellenia fühlt sich zwischen Tugend, Rache und Güte hin- und hergerissen. Ihr Göttergatte will sie doch glatt wegen der persischen Schönheit Mirtenia verlassen. Negrodorus als selbst ernannter Quacksalber à la Dulcamara in “L’Elisir d’amore“ weiß für “Liebes- Ehr und Silber-Würmer” eine alternativlose Abhilfe: “Hier hilft nur der Todten-Tranck!”
Gott sei Dank klärt der richtige Arzt Hesychius den König rechtzeitig über die Ursache all dieses Gefühls-Brimboriums auf: Es ist nichts weiter als Liebeskummer. Werte Leserinnen und ebenso werte Leser! Sie ahnen es bereits. Das Happy End naht: Der König verzichtet clevererweise zugunsten seines Sohns auf seine Frau Stratonica. Der Chirurg wird in den Fürstenstand erhoben und vom König mit der Hand der persischen Prinzessin Mirtenia belohnt. Ellenia kann so ihren Demetrius behalten. Die Kraft der Liebe wird von allen im Schlussseptett/-sextett besungen: “So wechselt die Hertzen: Du bleibst mein Leben. Du bleibst mein Labsahl, Vergnügen und Lust, Du tröstest die vormals bekümmerte Brust. Es bleibet mein Hertze dir ewig ergeben.”
Diese irgendwo zwischen Dada, Gaga oder eben barock ironisierter Liebes-Schnörkelei angesiedelte Handlung ist in die vorstellbar allerprächtigste, witzigste und abwechslungsreichste Musik getaucht. Das Boston Early Music Festival Orchestra hat dieser Oper des jungen Graupner im Sendesaal Bremen Jänner/Februar 2020 heißen Lebensatem eingehaucht. Die bis in die kleinste Rolle vorzügliche Besetzung vermag bei aller Wortdeutlichkeit sowohl die artikulatorische Doppelbödigkeit als auch die virtuosen Anforderungen der wunderbar instrumentierten Partitur lebensnah auszureizen. Der Chor ist solistisch mit Manja Stephan, Nina Böhlke, Benjamin Kirchner und Alexander Schumann besetzt. Ein trotz über dreieinhalb Stunden Spielzeit kurzweiliges Hörvergnügen!
Dr. Ingobert Waltenberger