CD „Chormusik der Welt“ SWR Vokalensemble Stuttgart; SWR Classic
Aufnahmen aus den Jahren 2012 bis 2019 werden in der vorliegenden Box zu einer Enzyklopädie überwiegend zeitgenössischen Chorgesangs zusammengefasst. Wenn nur die nördliche Hemisphäre betrachtet wird, stimmt die Eigen-PR „Einmal um den Globus mit dem SWR Vokalensemble“ sogar. Für Chormusiken südlich des Äquators gäbe es durchaus noch Nachholbedarf. Dabei gäbe es ja schon einmal ein Album mit Chorwerken von Heitor Villa-Lobos im SWR-Katalog…..
Neun Länder stehen nun also auf dem Prüfstand um die Gunst des Hörers. Welches davon da wohl die Palme davontragen wird? Das möge jeder für sich entscheiden. Die Veröffentlichung der zuerst bei Hänssler erschienenen Einzel-CDs kommt gerade rechtzeitig zum 20-jährigen Geburtstag des SWR Classic-Labels und darf symbolisch als krönender Abschluss der beinahe 18-jährigen Zusammenarbeit des Chefdirigenten Marcus Creed mit dem SWR Vokalensemble gelten. Der Musiker war einst selbst Chorist und zwar im King’s College Choir, Cambridge. Daher weiß er auch, was er tut, im Bereich der Alten Musik genauso wie in der Experimentellen des zeitgenössischen Schaffens. Marcus Creed bleibt dem SWR Ensemble als erster Musiker überhaupt als Ehrendirigent erhalten.
Die Ausführenden dieses Abenteuers einer 9 CD umfassenden Anthologie der Chormusik des 20. und 21. Jahrhunderts sind Franz Vitzthum, Andra Darzins, Tomoko Hemmi, Jürgen Kruse, Markus Stange, Franz Bach, Boris Müller und das SWR Vokalensemble Stuttgart.
Der SWR Profi-Kammerchor kommt mit allen technischen Anforderungen der teils an Intonationspräzision und rhythmischen Vertracktheiten unverschämt fordernden Partituren sehr gut zurecht. Einige Kompositionen sind von lautmalerischer „Stimmartistik“ (böse Zungen könnten geneigt sein, die Schöpfer des Sadismus zu bezichtigen) nicht weit entfernt. Auf ätherische Klangschönheit und gläserne Transaprenz legen die Stuttgarter generell mehr Wert als auf deutliche Artikulation, also auf Stimmung und Atmosphäre mehr als auf Inhalt und expressive Wahrhaftigkeit. Die Balance zwischen den Stimmgruppen ist sehr gut austariert, allerdings können die Soprane in den Höhen manche Schärfen nicht vermeiden (z.B.: „Yliam“ von Giancinto Scelsi). Das Stimmideal eines äußerst vibratoarmen Gesangs kommt eindeutig aus der Alten Musik, und passt auch gut zu den modernen Stücken. Dieses instrumental schlanke Musizieren bedeutet aber auch, dass nicht überall (russisches oder baltisches Repertoire!) die betörende Stimmfülle geboten wird, die sich vielleicht der oder die eine oder andere wünschen würde. Alles kann man eben nicht haben. Einzigartig an der Box dürfte freilich der umfassende Blick in die brodelnde Hexenküche des chorischen und A-cappella Schaffens, einer umfassenden Art sinnlich orchestraler Vokalkultur überwiegend des 20. und 21. Jahrhunderts sein. Grosso modo ist daraus eine faszinierende Entdeckungsreise mit einigen Abstechern in unwegsames Land geworden.
Klangtechnisch bedienen die CDs höchste audiophile Standards.
1. CD Amerika – Bernstein: Missa Brevis; Copland: Motetten „Help Us, O Lord“, „Thou, O Jehovah, Abideth Forever“, „Have Mercy on Us, O My Lord“, „Sing Ye Praises to Our King“; Reich: Proverb; Cage: Five; Feldman: The Rothko Chapel; Barber: A Stopwatch and an Ordnance Map
2. CD Russland – Schnittke: 3 Geistliche Gesänge; Rachmaninoff: Theodokos, immer wachend im Gebet; Gubaidulina: Suite für Chor a cappella „Hommage an Marina Zwetajewa“; Tanejew: 3 Chöre nach Jakov Polonski op. 27; Glinka: Cherubim-Hymnus; Tschaikowsky: Cherubim-Hymnus
3. CD Italien – Verdi: Ave Maria; Laudi alla Vergine Maria; Pater noster; +Scelsi: Yliam; T K R D G; Nono: Sara dolce tacere; Pizzetti: Tre Composizioni corali; Petrassi: Nonsense
4. CD Großbritannien – Peter Maxwell Davies: Corpus Christi with Cat and Mouse; James MacMillan: Alleluia; Jonathan Harvey: How could the soul not take flight; John Tavener: Schuon Hymnen; Benjamin Britten: Sacred and profane
5. CD Polen – Szymanowski: Sechs kurpische Lieder; Penderecki: Veni, creator spiritus; Cherubinischer Lobgesang; Haubenstock-Ramati: Madrigal; Gorecki: Fünf kurpische Lieder; Lutoslawski: 10 Polnische Volkslieder über Soldatenthemen
6. CD Finnland – Sibelius: Rakastava; Finlandia op. 26 Nr. 7; Saariaho: Nuits adieux; Talvitie: Kuun Kirje; Rsautavaara: Canticum Mariae virginis; Cancion de nuestro tiempo; Orpheus singt; Linkola: Mieliteko
7. CD Frankreich – Poulenc: Un Soir de neige; 4 Petites Prieres; Debussy: 3 Chansons; Milhaud: Naissance de Venus; Jolivet: Epithalame; Messiaen: O sacrum convivium; Aperghis: Die Stellung der Zahlen
8. CD Japan – Hosokawa: Die Lotosblume für gemischten Chor & Percussion; Takemitsu: Windpferd; Kirschblüten; Flügel; Kleiner Himmel; Mamiya: Komposition für Chor Nr. 1; Kondo: Motette im Zeichen der Rose für 12 Stimmen
9. CD Baltikum – Einfelde: Evening; Prayer; Heaven; Mazulis: Canon solus; Vasks: Ballade „Litene“; Tormis: 2 Lieder nach Ernst Enno; Dzenitis: 4 Madrigale von e. e. cummings; Janolyte: Plonge für Cello & 12 Stimmen; Pärt: „Und ich hörte eine Stimme…“
Dr. Ingobert Waltenberger