CD CARL HEINRICH GRAUN „SILLA“ – Aufnahme aus dem Tiroler Landestheater im Rahmen den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik 2022, Weltersteinspielung; cpo
König, Feldherr, aufgeklärter Reformer, Flötist, Komponist und Librettist, alles das war Friedrich II. von Preußen. Wenn er nicht gerade mit Voltaire philosophierte oder sich um Manufactursachen (heute würde man sagen Industriepolitik), Bildhauerei oder die Malkunst kümmerte, liebte es Friedrich der Große, zumindest zwischen 1749 und 1754, Prosaentwürfe für Opernlibretti in französischer Sprache zu verfassen. Klarerweise wollte Friedrich so sein eigenes Herrscherbild für die Ewigkeit künstlerisch geformt und durch Gesang emotional verfestigt wissen. Coriolan, Silla und Montezuma hießen seine präferierten Helden, deren Leben und Wirken eine poetisch sich mäßigende, jeglicher Tyrannei und Machtmissbrauch abholde Weisheit ausstrahlen sollten.
Zumindest was den römischen Feldherrn und Diktator Silla anlangt, braucht es aber drei Akte, bis der Sieger über Mithridates von Pontus und Bürgerkriegsbezwinger der Popularen auch in Liebesdingen einigermaßen Reife erlangen konnte.
Ein Triumphzug alleine genügt nicht: Der in Ottavia vernarrte Silla sehnt sich nach privatem Glück. Ottavia liebt aber den Senator Postumio. Unnötig zu sagen, dass Ottavia die Tochter eines Patriziers ist, den Silla auf dem Gewissen hat und dass des adeligen Postumio Familie durch Sillas Säuberungsaktionen so gut wie alles verloren hat.
Rund um Silla verkörpern der Senator Metella das ehrsame Gewissen („Ein Römer begeht der Liebe wegen keinen Rechtsbruch.“) und in seinen Argumenten auf die Würde eines Imperators abzielende Vernunft, während der intrigante Crisogono Silla dazu rät, Ottavia zu entführen bzw. sie sich mit Gewalt zu nehmen. In der Logik der barocken Huldigungsoper verzichtet Silla im läuternden dritten Akt nicht nur auf die Liebe, sondern er lässt Postumio frei, restituiert das konfiszierte Familienvermögen und überantwortet die Staatsmacht wieder Senat und Volk. Im Schlusschor wird Sillas Großmut, Friede und Freiheit gepriesen.
Die Musik zu dieser vom neu installierten Hofpoeten Giovanni Pietro Tagliazucchi in italienische Verse gegossenen Geschichte schrieb Carl Heinrich Graun. Es sollte die 28. seiner insgesamt 33 Bühnenwerke sein. Graun war ab 1742 als Kapellmeister an der mit seiner „Cleopatra e Cesare“ eröffneten Hofoper der tonangebende Musiktheaterkomponist am Hofe Friedrich II. Bis zu seinem Tod 1759 schrieb er an die zwei Opern jährlich. „Silla“ wurde 1753 aus der Taufe gehoben, einem konkurrenzreichen Jahr, in dem Hasses „Didone abbandonata“ ebenfalls in Berlin, und zwar vor „Silla“, ihre Uraufführung erlebte. Man kann sich leicht ausmalen, wie sehr Graun sich anstrengen musste, um den melodischen Einfallsreichtum und die virtuose Exzentrik des Dresdner Superstars zu egalisieren, wenn nicht zu übertreffen. Dieser Ansporn war von Friedrich wohl beabsichtigt. Das Ergebnis spricht denn auch für sich. Die zirzensisch mit schillernden Koloraturgirlanden gespickten Arien, die affektengeladene Dramatik bzw. jubelnde Lebensfreude (Duett Ottavia-Postumio „Quando potrem giammai“), die reflektierend disparate Gefühle abtastenden Gesangslinien finden in den über drei Stunden Musik ihren trefflichen Ausdruck. Langeweile kommt nie auf.
Das ist zum einen Allesandro de Marchi und dem akkurat und flott aufspielenden Innsbrucker Festwochenorchester zu verdanken. De Marchi hat sich für die Innsbrucker Aufführung auf nicht von Graun stammende handschriftliche Exemplare aus der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, gestützt. In einer der Partituren sind unmittelbar neben den Erstvertonungen zu drei Arien Versionen vorgesehen, die möglicherweise von Friedrich selbst stammen. In der vorliegenden Einspielung ist eine dieser alternativen Arien zu hören, und zwar Crisogonos Arie „Dirò, che tu l’a dori“ zu Ende des ersten Akts.
Rein sängerisch gibt es viel Positives mit kleinen Einschränkungen zu berichten. Allen voran ist Bejun Mehta in der Titelrolle des Silla zu würdigen. Dieser Doyen der Countertenöre, der Ende Juni 55 Jahre alt wird, ist stimmlich erstaunlich fit. Erst mit 30 Jahren debütierte der ausgebildete Bariton und Cellist als Altist. Ich habe ihn u.a. 2005 in Salzburg als Farnace in Mozarts „Mitridate, re di Ponto“ gehört. Seine Markenzeichen sind eine sämige Mittellage und ein knackiger Stimmkern, eine am Textgehalt sich orientierende eminente Ausdrucksgabe, eine italienisch geprägte Eleganz der Phrasierung und last but not least seine traumwandlerische Musikalität. Wunderbar ist es, zu erleben, wie Mehtas Stimme zunehmend an Spannkraft und Glanz gewinnt und im dritten Akt in der Jubelarie „Sia questa giorno altero“ wie ein junger, seine Botschaft des glücklichsten und frohsten Tags aufgeregt verkündender Bursche klingt.
Ottavia, die Postumio versprochene Braut, wird von der Florentiner Sopranistin Eleonora Bellocci vokal aufregend zwischen hingebungsvoller Leidenschaft und wutentbrannter Zurückweisung der aufdringlichen Avancen des Silla gestaltet.
Ihr Geliebter Postumio ist eigenartigerweise mit dem venezolanischen Sopranisten Samuel Mariño – d.h. im Vergleich zu Ottavia mit einem hellerem Stimmtypus – besetzt. Klingt die erste Arie „Caro bell’idol mio“ mit manch nur spitz und scharf erreichtem hohen Register dünn und verschattet, so gerät das in rasenden Tempi vorgetragene und in unendlich vokalem Zierrat badende Duett im zweiten Akt mit Bellocci zu einem Fest der Stimmen.
Der „nette“ Berater (eigentlich Ratsherr) Sillas Metello ist mit Valer Sabadus gut gewählt besetzt. Das einschmeichelnde seidige Timbre, die unaufdringliche Virtuosität, die stupende Legatokultur, all das prädestiniert ihn für diese die Eigenschaften politischer Korrektheit idealisierende Figur.
Dessen machiavellischer Gegenspieler Crisogono findet im türkischen lyrischen Tenor mit Biss, Mert Süngü, einen vorzüglichen Interpreten. An Mozart und Belcanto geschult, zählen seine zwei feurigen Arien zu den spannenden Höhepunkten des Albums.
Und weil alle Rollen mit hohen Stimmen besetzt sind, muss auch die Rolle des Lentulo, Freund Postumios, von einem Countertenor gesungen werden. Der in Berlin erst als Bariton ausgebildete und an der Komischen Oper wie in Innsbruck in etlichen Countertenorrollen erfolgreiche Sänger Hagen Matzeit verfügt über besonders ansprechende, breit rangierende Stimmfarben. Hie und da weniger (d.h. gar nicht) behauchte Konsonanten, und ich wäre rundum glücklich.
Als Fulvia, Mutter der Ottavia, ist die Legende Roberta Invernizzi, auch sie wie Mehta mit dem Geheimnis immerwährender Stimmfrische gesegnet, aufgeboten.
Die Tonqualität schwankt, ist grosso modo zufriedenstellend, wenngleich nicht brillant.
Eine fabulöse Entdeckung, die sich Barockmusikbegeisterte sicher nicht entgehen werden lassen!
Dr. Ingobert Waltenberger