CD CARL HEINRICH GRAUN: IPHIGENIA IN AULIS – barockwerk hamburg; cpo
Großartige Weltersteinspielung
Wie exotische Blumen sprießen sie hervor, all die Aufnahmen von Barockopern, die für Neapel, Rom, Venedig, Wien, Berlin, Hamburg oder Braunschweig vor Jahrhunderten komponiert, ein paar Mal gespielt und sodann von der Bildfläche verschwunden sind. Das war auch das Schicksal von “Iphigenia in Aulis” des gerade einmal 24-jährigen Carl Heinrich Graun nach dem Libretto von Georg Caspar Schürmann. Zuletzt 1731 an der Gänsemarkt Oper in Hamburg aufgeführt, ist diese Oper auch Zeugnis der „deutschsprachigen Periode“ des Graun, der ja später als erster Kapellmeister der Königlichen Oper in Berlin nur noch Opern in italienischer Sprache schrieb. Es ist die dritte der sechs Opern, die Graun für die Hagenmarkt-Oper in Braunschweig komponierte. Uraufgeführt wurde sie 1728.
Bemerkenswert war die enge und fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem älteren Kollegen Georg Caspar Schürmann. So sang Graun in Braunschweig in Schürmanns „Heinrich der Vogler“, schrieb Einlagearien für weitere Schürmann-Opern, wie „Ludovicus Pius“ und „Clelia“. Im Gegenzug dichtete Schürmann Textbücher für den liebenswerten Graun. Für die „Iphigenia in Aulis“ stützte sich Schürmann auf ein älteres Libretto, das Christian Heinrich Postel für Reinhard Kaisers musikalisch nicht erhaltene Oper „Die wunderbar errettete Iphigenia“ mit Blick auf „Euripides‘ vortreffliches Trauer-Spiel“ 1699 kreierte. Euripides wurde insoweit „verbessert“ oder für den Zeitgeschmack adaptiert, als Postel eine Liebesgeschichte zwischen Deidamia und Achilles ersann sowie eine Intrige und die komische Figur Thersites dazu erfand. Dieser darf sich als lustiger Diener der Deidamia bei Graun in köstlich verqueren Arien wie „O ihr verliebten Venus-Sieger“ und „Schweren, Lügen, Triegen“ über die Liebe und die dazu passende (Un)Treue mokieren.
Als gelernter Sängerknabe und kaum erwachsen als herausragender hoher Tenor (später vervollständigten das Spiel auf der Orgel, dem Cembalo, dem Cello und der Laute seine musikalische Ausbildung) wusste Graun mit der menschlichen Stimme äußerst reizvoll umzugehen, ihr bestrickende Melodien unterzujubeln, diese aber immer mit sprachlich präzisem Ausdruck sowie seiner speziellen Art an bewegter Energie und positiver Resonanz anzureichern.
Die Partie des verdammt hoch gelegenen Achill (er wird in dieser Aufnahme vom Hamburger Mirko Ludwig exzellent verkörpert, der mich in der Reinheit des Tons an Peter Schreier erinnert – wie Graun hat auch Ludwig als Knabensopran begonnen) hat Graun für sich selbst geschrieben. Insgesamt 23 Arien und 2 Arioso sind es, die Ira Hochman aus zwei verschiedenen unvollständigen Handschriften für diese Aufnahme aufbereitet hat. Die Musik zu den Rezitativen wie zu den Chören ging verloren. Wir hören also die Quintessenz der Musik, dementsprechend kurzweilig ist die Aufnahme geraten, zumal auch die vokale Besetzung keinerlei Schwachpunkte zeigt.
Um nicht auf einen Schlusschor verzichten zu müssen, hat Hochman sich dafür entschieden, den Schlusschor „La gloria é un gran bene“ aus Grauns Oper „Caio fabricio“ in der Fassung „Es weiche, es fliehe der Kummer der Seelen“ zu entlehnen. Da einige der Arien für ein und dieselbe Partie in unterschiedlichen Lagen notiert waren, mussten zum Ausgleich Adaptionen vorgenommen bzw. die Rolle des Nestors auf den Tenor Mirko Ludwig und den Bassisten Dominik Wörner, der eigentlich die Rolle des Agamemnon singt, aufgeteilt werden.
Insgesamt sind wir von Temperament und Atmosphäre her weit von einer düsteren musikalischen Tragödie entfernt, zumal das Stück mit einer Doppelhochzeit endet: Nachdem sich Thersites noch einmal ausgiebig über die Liebe lustig gemacht hat („Die Mägdens sind recht wunderlich, wenn Liebe sie besessen, da meynet man, sie wollen sich vor lauter Liebe fressen. Da wird nicht Müh und List gespart, zu kriegen, worauf sie vernarrt.“), verhindert die auf einer Wolke herab schwebende Göttin Diana in letzter Minute den Opfertod der Iphigenia. Iphigenia kommt frei, an ihre Stelle tritt ein weißes Reh. Happy End für Iphigenia und Anaximenes (=König Thaos), was in der ursprünglichen Historie heißt: Keine Pest mehr, der Sturm verwandelt sich in günstiges Wetter. Deidamia bekommt nun auch ihren Achilles, der von Agamemnon erlegt heilige Hirsch ist vergessen und alle ist Wonne und Waschtrog.
Das barockwerk hamburg unter der künstlerischen Leitung von Ira Hochman hat bereits mit der Ersteinspielung von Grauns deutschsprachiger Oper „Polydorus“ Pionierarbeit geleistet und legt nun mit dieser beschwingt und galant musizierten „Iphigenia in Aulis“ ein hübsches Schäuferl nach.
Als Iphigenia erfüllt Hanna Zumsande den Reigen der widerstreitenden Gefühle der wegen des Jagd-Vergehens des Vaters todgeweihten Frau mit bewegender Innigkeit und gefasster Opferbereitschaft.
Die zweite weibliche Hauptrolle der Deidamia ist mit der Sopranistin Santa Karnite ebenso stilistisch wie klangschön besetzt.
Als Iphigenias Mutter Clytemnestra weiß die ebenfalls frischstimmig und lupenrein intonierende Geneviève Tschumi den Zwiespalt zwischen politischem Pflichtbewusstsein und Auflehnung einer liebenden Mutter gegen die grausamen Götter in allen Facetten ihrer Arien glaubhaft zu gestalten.
Countertenor-Urgestein Terry Wey als Anaximenes hat nicht nur mit der Arie „Augen machte euch bereit“ eines der stärksten Stücke der Oper zu singen, sondern klingt heute noch so jung und geschmeidig wie am ersten Tag seiner Karriere.
Andreas Heinemeyer spart bei den schräg und komisch das Geschehen kommentierenden Einlagen des Thersites weder an spitzer Drastik noch böse-triefendem Sarkasmus. Der junge Sänger widmet sich neben der Barockoper mit der gleichen Leidenschaft der zeitgenössischen Musik und ist auch festes Mitglied des NDR-Vokalensembles.
Bassbariton Dominik Wörner hat den feierlichen Ton des Agamemnon ebenso parat wie das „Wo ungerechte Götter thronen“ des Agamemnon-Vertrauten Nestor.
Beim Hören all dieser melodisch und affektiv so abwechslungsreichen Arien, ihrer ins semantische Herz des Textes zielenden Rhetorik und reichen figurativen Ausstattung kann man nur so staunen, wie zukunftsweisend sich Grauns deutschsprachige Inventionen für spätere Singspiele etwa von Mozart erweisen. Neben dieser musikhistorischen Beobachtung kann aber auch einfach nur diese so ungemein farbig und unterhaltsame Musik genossen werden. Ein weiterer unverzichtbarer Meilenstein in der dank u.a. den Initiativen des Verlags cpo schon ziemlich reich bestückten Graun-Diskographie.
Dr. Ingobert Waltenberger