CD: CAMILLE SAINT-SAËNS: LE TIMBRE D‘ARGENT – Les Siècles, François-Xavier Roth
Samson, Dalila und die Silberglocke
Als 25. Folge der Serie „Opéra français“ legt der „Palazzetto Bru Zane“ von Camille Saint-Saëns Opernerstling „Le Timbre d’argent“ vor.
In der Weihnachtsnacht beklagt der Maler Conrad (mit sattem, hellem Tenor und verständlich, als ob Französisch seine Muttersprache wäre Edgaras Montvidas) seine trotz der Unterstützung seines Freundes Bénédict, seines Arztes Spiridon und seiner Geliebten Hélène (mit breitem, dramatischem Sopran Hélène Guilmette) hoffnungslose Situation. Conrad hat sich in eine Tänzerin verliebt, die er in Gestalt der Zauberin Circe gemalt hat. Seinem Arzt Spiridon (mit wunderbar herbem Kavaliersbariton Tassis Christoyannis) wirft er vor, ihm nur Pech und Unglück zu bringen. In einem Traum sieht Conrad Circe tanzen und trifft auf Spiridon, der ihm eine silberne Glocke. Jedes Mal, wenn er die Glocke läutet, wird er reicht beschenkt: zugleich muss aber ein geliebter Mensch sterben. Conrad läutet sofort die Glocke: es regnet Gold und Hélènes Vater bricht tot zusammen.
Im Theater erhält Fiammetta von Conrad und Spiridon, nun in der Verkleidung eines Marquis Geschenke. Beide versprechen ihr einen Palast. Gegenseitig fordern sie sich am Spieltisch. Der Marquis verwandelt die Bühne in Palast, worauf Conrad, verärgert über seine Niederlage, das Fest plündert um nicht die Glocke läuten zu müssen.
Conrad hat Hélène und ihrer Schwester Rosa (Jodie Devos), die dabei ist Bénédict (mit hellem, wohlklingendem Tenore di Grazia Yu Shao) zu heiraten, eine Hütte geschenkt. Fiammetta und Spiridon versuchen Conrad zu verführen, denn er hat, um nicht mehr in Versuchung zu geraten, die Glocke im Garten vergraben. Fiammetta und Spiridon laden sich, verkleidet als Zigeuner, selbst zur Hochzeit ein. Ihre Verführung gelingt und Conrad läutet die Glocke erneut: Bénédict fällt tot um.
Zum See gelockt, in den Conrad die Glocke nun geworfen hat, widersteht er den Sirenen. Spiridon zaubert ein Ballett herbei, mit dem Circe einen atemberaubenden Auftritt bietet. Der Geist Bénédicts reicht Conrad die Glocke. In der Gegenwart Hélènes, die er herbeigerufen hat, hat er die Kraft die Glocke zu zerschmettern. Conrad wacht aus dem Traum auf und verspricht nun Hélène zu heiraten. Er will in Zukunft ein anständiges, genügsames Leben führen. (Jean-Yves Ravoux als Patrick und Matthieu Chapuis als Un Mendiant ergänzen das Ensemble).
Das Libretto von Jules Barbier und Michel Carré, das stark an ihre Erfolgswerke Faust und Hoffmann erinnert, ist nur ein Grund, der die Beschäftigung mit der Oper lohnt. Alle drei Libretti entstanden in einem frühen Stadium der Karriere von Barbier und Carré als Stücke für das Sprechtheater und wurden später in Musik gesetzt. Weitere Gründe sind die ziemlich einmalige Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie ihre ausserordentlich reichhaltige Musik.
Als Saint-Saëns im Sommer 1864 das Libretto von Auber, damals Direktor des Konservatoriums als Trost für den zum zweiten Mal entgangenen Rom-Preis (1852 wurde Saint-Saëns von der Jury als zu jung befunden, 1864 dann als zu alt) erhält, ist bereits 12 Jahre alt. 1852 für das Théâtre de l‘Odeon entstanden, dort dann aber nicht aufgeführt, hatten die Autoren es zur Oper umgearbeitet und bereits drei Komponisten, Xavier Boisselot, Henry Littolf und Jacques Fromental Halévy erfolglos angeboten. Saint-Saëns hatte das Stück rasch komponiert. Dann aber, in den Händen des gleichermassen legendären wie schwierigen Leon Carvalho, Direktor des Théâtre Lyrique blieb erst einmal liegen. Im Januar 1868 begannen dann doch die Proben zur Uraufführung. Bis zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 wurde die Oper von allen grossen Pariser Häusern, der Opéra, der Opéra Comique und dem Théâtre Lyrique angenommen, aber nicht gespielt. 1876 programmierte das neu eröffnete Théâtre de la Gaîte das von Saint-Saens permanent überarbeitete Stück und brachte es am 23.02.1877, gut 13 Jahre nach seiner Komposition, in seiner vierten Fassung zur Uraufführung. Für alle weiteren Aufführungen und teilweise sogar nur Möglichkeiten einer Aufführung schuf Saint-Saëns neue Fassungen, die dann häufig bei Choudens im Druck erschienen. Im März 1914 erklang die Silberglocke zum letzten Mal in Brüssel – dann erst wieder in der Gegenwart.
Der Silberglocke und der im Oeuvre folgende Oper „Samson et Dalila“ gemeinsam sind die Entstehungszeit Mitte der 1860er-Jahre und die Schwierigkeiten der Uraufführung, die im Falle von „Samson et Dalila“ in Weimar stattfand (02.12.1877) und von Franz Liszt vermittelt wurde. Wo hingegen „Samson et Dalila“ zügellos modern ist, ist „Le Timbre d’argent“ bloss im Rahmen der Konvention modern. Saint-Saëns Ideen zur Weiterentwicklung der Opéra comique, die Musik im Dienst der dramatischen Aussage, wurden zur Zeit der Uraufführung nicht mehr verstanden. Die ausserordentliche reichhaltige, farbige Musik, die für jedes Ohr etwas zu bieten, gefiel damals und vermag auch heute noch zu gefallen, gerade wenn sie so stilsicher wie von Les Siècles und accentus unter François-Xavier Roth dargeboten wird.
Ein unerwartet lohnender und befriedigender Ausflug ins Französische Fach!
12.09.2020, Jan Krobot/Zürich