CD „BURIED ALIVE“ THE NEW ORCHESTRA spielt Werke von ARTHUR HONEGGER, OTHMAR SCHOECK und DIMITRI MITROPOULOS; BridgeRecords
Das neue Album des amerikanischen The New Orchestra geht es sportlich an, ganz im Geiste des 2015 am Bard College, Annandale-on-Hudson Bundesstaat New York von Leon Bot als Graduate Programm gegründeten „Studentenklangkörpers“. Es setzt sich aus jungen Talenten der weltbesten Konservatorien zusammen.
Im 1928 von Arthur Honegger geschriebenen symphonischen Einsätzer „Rugby“ greift der schweizerisch-französische Komponist wie im berühmten „Pacific 231“ ein Stück reales Leben auf, um es programmatisch in Töne zu setzen. Waren es bei „Pacific 231“ der Klang und das Prusten einer Dampflokomotive, so sind es in „Rugby“ die Attacken und Gegenmanöver des beliebten Mannschaftsspiels Rugby. Persönliche Erinnerungen Honeggers an die Erlebnisse, die Energie und die Dynamik der Spiele im Stade Olympique Yves-du-Manoir, dem nordwestlich von Paris gelegenen Rugby- und Fußballstadion in Colombes, dürften wohl ausschlaggebend für die Wahl des Sujets gewesen sein. Honegger charakterisiert die zwei Mannschaften durch unterschiedliche Rhythmen, final gewinnt das 3/4-Team über die 4/4-Takter. Die verschiedenen Ballmanöver, das Gewusel am Platz und das sich im Laufe des Wettkampfs steigernde Tempo werden liebevoll zu einem symphonischen Gemälde montiert, symbolisieren aber schlussendlich die komplexen menschlichen Bewegungen und Interaktionen. Die acht Minuten Musik sind ein hochkonzentrierter musikalischer Vitaminbooster, der garantiert für einen guten Tag sorgt.
Im Mittelpunkt des Albums steht – wie schon der Titel „Buried alive“ bezeugt – der gewaltige spätromantische Liedzyklus „Lebendig begraben“ Op. 40 nach Gedichten von Gottfried Keller für Bariton, großes Orchester und Chor von Othmar Schoeck. Es geht – alptraumhaft rund um das Thema Scheintod – um einen Mann, der im Sarg unter der Erde liegend wieder zu sich kommt. Schutt und Erde poltern. Wir dürfen seinen Gedanken, Erinnerungen, Verzweiflungsausbrüchen und der Resignation bis zu seinem realen Tod folgen. Dieses Werk der „Roaring Twenties“ hat der Schweizer Komponist Othmar Schoeck als Monodrama ohne Pause konzipiert. Fischer-Dieskau hat den 45-minütigen Orchesterlied-Kosmos 1962 mit dem Radio Symphonie Orchester Berlin unter Fritz Rieger aufgenommen. Die Aufnahme ist wie so vieles längst vergriffen und schlummert in den Archiven der Deutschen Grammophon. Umso dankbarer darf man für die Initiative des Dirigenten und Pädagogen Leon Botstein sein, der den Zyklus nun mit dem deutsch ungarischen Bariton Michael Nagy exemplarisch aufgenommen hat. Es gilt aber nicht nur einen Liedzyklus, sondern den Komponisten Schoeck generell zu entdecken. Einige seiner Opern wie den an die Dramatik in Strauss‘ „Elektra“ erinnernden Schocker „Penthesilea“ oder „Venus“ sind dank Aufnahmen mit Martha Mödl und Eberhard Wächter (Penthesilea, Stuttgart 1957 unter Ferdinand Leitner) bzw. mit Lucia Popp und Boje Skovhus (Philharmonische Werkstatt Schweiz unter Mario Venzago 1992) auf CD erhältlich.
Gottfried Keller hat die „Gedanken eines lebendig Begrabenen“ 1846 in 14 bewegende Gedichte gegossen. Aus seinem Grab hört der unglückliche Protagonist die Stimmen der Außenwelt. „Da lieg‘ ich denn, ohnmächtiger Geselle, Ins Loch geworfen, wie ein Straßenheld, Ein lärmender, von der Empörung Welle; Ein blinder Maulwurf im zerwühlten Feld!“ Sein Leben zieht blitzlichtartig an ihm vorbei. Erinnerungen an seine erste Liebe, einen Christbaum, an ein Scharfschützenfestival, das mit dem Tod eines jungen Mädchens endet. Schoeck ummantelt den erschreckend realen Zyklus kontrapunktisch mit einer üppig romantisch expressionistischen Klangpracht. Anleihen von Richard Wagner sind ebenso vernehmlich wie spätromantische Einflüsse der Jahrhundertwende. Zu einem Riesenorchester gesellen sich Klavier Harfe und Orgel, ein Chor (The Bard Festival Chorale) ohne Worte stimmt zuletzt in die beginnende Agonie mit ein. Die vier Mezzos und vier Baritonstimmen begleiten den Solisten wie Geister aus dem Jenseits in seiner ekstatischen Vision der Ewigkeit, bevor er den Trost spiritueller Versenkung über das erbarmungswürdige Schicksal spürt.
Michael Nagy ist der denkbar beste Interpret. Mit mächtigem, dunkel glühenden, viril sonorem Bassbariton erzählt er bewegend aus dem Leben des Helden. Eingezwängt in den engen Holzsarg erstehen die grässlichsten aller Qualen. Wir hören die Turmuhr zwölf schlagen, den Begrabenen von Hunger reden, nicht einmal die Totengräber könnte er mit einem goldenen Ringlein locken. Nagy macht das Schicksal mit beklemmender Dichte fass- und miterlebbar. Das Orchester schürt die Emotionen, bis die Flammen innerer Verbrennung zünden. Nichts für alle, die unter Taphephobie, der Angst lebendig begraben zu werden, leiden.
Das dritte Stück des Albums überrascht mit einem wirkungsvollen „Concerto Grosso“ von Dimitri Mitropoulos. Der charismatische griechische Künstler hat sich vor allem als Dirigent einen Namen gemacht. Er leitete von 1949 bis 1958 das New York Philharmonic, war aber auch als Pianist und Komponist tätig. Mitropoulos studierte bei Busoni, hörte aber schon früh zu schreiben auf. Das „Concerto Grosso“ stammt aus dem Jahr 1928. Jeder der vier Sätze ist unterschiedlich instrumentiert. Mitropoulos geht von barocken Formen wie der Fuge aus und versetzt die neoklassische Vorlage mit dissonanten und perkussiven, auch heute noch höchst modern klingenden Elementen, unverkennbar durch die Zweite Wiener Schule inspiriert.
Fazit: Ein höchst empfehlenswertes Album mit Musik aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und vielleicht daher so eindringlich zeitgemäß. Schoecks „Lebendig begraben“ ist ein großes Meisterwerk der klassischen Moderne und hier neu und atemberaubend interpretiert zu entdecken.
Dr. Ingobert Waltenberger