CD-Buch THE CLEVELAND ORCHESTRA unter FRANZ WELSER-MÖST spielt SCHNITTKE und PROKOFIEV; Cleveland Orchestra and Musical Arts Association
Amerikanische Orchesterkultur vom Feinsten
Offenbar funktioniert die Kombination aus amerikanischen, bestausgebildeten Instrumentalisten und europäischen Chefdirigenten bestens. Nach der 10-jährigen Amtszeit des Amerikaners Lorin Maazel (1972-1982) ist diese Tradition schon seit 1984 mit Christoph von Dohnányi und seit 2002 mit Franz Welser-Möst nicht nur lebendig, sondern auch höchst erfolgreich.
Da haben sich mit dem aktuell besten österreichischen Dirigenten und dem US-Luxusklangkörper zwei gefunden, könnte man ohne Übertreibung sagen. Das dritte Album des Eigenlabels des Cleveland Orchestra im quadratischen 19×19 cm Großformat folgt wieder dem Dualismus „etabliert-zeitgenössisch“. Es startet mit Sergej Prokofievs zweiter Sinfonie in d-Moll, op. 40. Als Live-Mitschnitt einer öffentlichen Konzertaufführung aus der Knight Concert Hall im Adrienne Arsht Center for the Performing Arts in Miami, Florida vom 17. und 18. Jänner 2020 wird sie auf dem Album einer pandemiebedingt ohne anwesendes Publikum aufgezeichneten Aufführung von Alfred Schnittkes Konzert für Klavier und Streicher mit Yefim Bronfman als Solisten eines digital Broadcast der Serie „In Focus“ aus der Severance Hall in Cleveland gegenübergestellt. Das Orchester wird übrigens seinen Hauptspielort in “Jack, Joseph und Morton Mandel Concert Hall” umbenennen, nachdem es im Herbst 2021 eine Schenkung der Foundation in Höhe von 50 Mio. Dollar erhalten hat. Damit will das Orchester seine Infrastruktur ausbauen und beispielsweise in eine eigne Streaming Plattform “Adella” investieren, über die Konzerte einem Publikum weltweit zugänglich gemacht werden sollen.
Welser-Möst, der seit fast 20 Jahren dem Orchester vorsteht und dessen Vertrag bis 2027 verlängert wurde, ist nicht nur der das Spitzen-Kollektiv herzerfrischend anfeuernde musikalische Leiter, sondern ein pädagogisch erfahrener Allrounder, der klug über Musik zu erzählen weiß. Wir dürfen uns darüber freuen, dass in Cleveland nach von Dohnányi wieder ein eingefleischter Orchestererzieher mit höchstem Präzisionsanspruch am Werk ist, der nach sachlicher Notenanalyse sein ganzes Herzblut in intensive Konzertausleuchtungen steckt. Die Paarung auf dem neuen Album ist des jedenfalls ein beredter Zeuge, sie ist programmatisch innovativ und musikalisch spektakulär.
Die Covid-19 Pandemie war mit der langen Disruption gegenüber einer gewohntermaßen vor Publikum stattfindenden, öffentlichen musikalischen Kunst die größte Krise in der Geschichte des Orchesters. Jahrelange Planungen waren von einer Minute auf die andere hinfällig. Daher wurde versucht, das schwierige Momentum für neue Ideen, neues Repertoire und Technologien zu nutzen, damit der Kontakt zum Publikum bestehen bleibt. Die neue CD ist das Produkt ebendieser Entwicklung.
Zwei Werke werden auf dem Album vorgestellt, das eine am Vorabend der Moderne entstanden, das andere aus einem postmodernen Idiom hervorgegangen. Eines wurde vor kaum zwei Jahren traditionell live während eines Konzerts aufgenommen, das andere war die Erfindung aus der Not: Da keine Bläser zugelassen waren, durfte nur ein Streichorchester mit Maske agieren. Ursprünglich wollte Welser-Möst Prokofiev mit Schubert kombinieren und damit auf ausführliche Tournée gehen. Daraus wurde in dieser Form nichts, auch das geplante Konzert im Wiener Musikverein im März 2020 musste abgesagt werden.
Glücklicherweise fand das Prokofiev-Konzert mit dem typischen „Cleveland Sound“ in Miami noch statt. So hören wir eine uhrwerktickende, expressionistische “Zweite” von Prokofiev. Diese Schöpfung aus 1925/1925 war vom technologischen Fortschritt der Zwanziger Jahre, aber ebenso vom Nachhall der schrillen Kriegsfanfaren inspiriert. “Maschinenmusik” nannte man die Strömung, die sich an ratternden Dampfloks, dem Sound von Flugzeugen, Autos und Fabriken abarbeitete. Diese nach wie vor avantgardistisch und lustig zugleich klingenden Werke haben zwar einen echten Bruch mit der Romantik und aller impressionistischer Verfeinerung markiert, dennoch neu war das alles nicht. Schon Wagner hat im “Rheingold” stählerne Hämmer als lautmalerisches Signum des industriellen Nibelheim eingesetzt. Prokofiev hat jedenfalls, von Honegger selbst auf die Fährte gebracht, sein Werk in neunmonatiger “rasender Mühsal” fertig gestellt. Dabei setzte er u.a. mechanistische Rhythmen in einem unmittelbaren, gnadenlosen und unausweichlichen Vorwärts, durchsetzt von Themen der russischen Orthodoxie als auch zynisch verzerrte Walzer im Sinne eines Tanzes auf dem Vulkan ein.
Hundert Jahre später freuen wir uns vor allem über ein gewagt virtuoses Meisterwerk. Den zweiten Satz gestaltete Prokofiev nach der prügelnden Tonorgie des ersten als ein Thema (Andante) samt sechs Variationen mit viel Platz für idyllischere Klanglandschaften. Beethovens Diabelli-Variationen haben hier eine weitere Spur hinterlassen. Welser-Möst sieht die Musik nicht zuletzt als spezifischen Kommentar zu einer im Wandel begriffenen Welt. Sieben Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs entstanden, waren die “Roaring Twenties” voller Swing, Energie und Unsicherheit. Prokofiev schrieb darauf sein modernstes und sonderbarsten Werk. Welser-Möst und seinem Orchester gelingt eine zwingende Wiedergabe dieser selten gespielten Symphonie, deren Extreme freilich durch die hohe Klangschönheit und Professionalität des edlen Orchesters heute salonfähiger denn je sind.
Aber auch das einsätzige, zweite Klavierkonzert aus dem Jahr 1979 von Alfred Schnittke ist voller Gegensätze und inventiver Überraschungen. Der russische Komponist ohne russisches Blut – beide Eltern waren Deutsche – war von Prokofiev und Shostakovich beeinflusst. Sein musikalischer fruchtbarer Weg fährt ihn durch Phasen von Zwölftonmusik, Jazz bis hin zu spirituell mystisch wirkenden Eingebungen. Yefim Bronfman ist als Solist dieses Konzertes ein Glücksfall. Er durchmisst in den zwanzig Minuten Musik Strecken von so vielen die Fingerfertigkeit des Pianisten auf die Probe stellenden Noten, das man meinen könnte, es wären mindestens vier Hände am Werk Ebenso hören wir hierauf wieder zurückgenommene, delikate Passagen voller innerer Einkehr und Demut. Die Streichersektion des Cleveland Orchestra ist ebenso vielfach und polystilistisch gefordert. Da summt und schwirrt es wie im Bienenstock, von schrillen Ausbrüchen durchsetzt dreht sich ein Walzer bis hin zum wundersamen Fade-Out der Partitur.
Auch wegen der überragenden Tonqualität ist das Album jede Empfehlung wert.
Dr. Ingobert Waltenberger