CD-Buch samt Blu-ray: Die Berliner Philharmoniker spielen Unsuk Chin; Berliner Philharmoniker Recordings
„Am Anfang eines Werks habe ich ein vages Bild, eine Farbe oder eine Vision als Inspiration. Die Idee geht ihren Weg, der Kopf macht eine Wanderung, bis die Idee keinen Platz mehr im Kopf hat und raus will. Dann fange ich an zu schreiben.“ Unsuk Chin
Wer sich zur Abwechslung von Beethoven, Bruckner, Brahms, Mahler oder aktuellen Jubilaren einmal mit zeitgenössischer Musik, interpretiert auf allerhöchstem Niveau, beschäftigen will, für den haben die Berliner Philharmoniker nun nach der John-Adams Edition vom November 2017 einen neuen heißen Tipp für Sie:
Die koreanische Komponistin Unsuk Chin mit Wohnort Berlin, seit geraumer Zeit eine der von den weltbesten Orchestern am meisten geschätzte Tonsetzerin, hatte nicht gerade einen gloriosen Start als Wunderkind oder frühreifes Genie. In Seoul fiel sie erst einmal bei der Aufnahmeprüfung für das Kompositionsstudium durch. Ähnliche Geschichten der anfänglichen Fehleinschätzung von Musikhochschulen kennen wir von der österreichischen Primadonna Leonie Rysanek, die dann oder gerade wegen des steinigen Anfangs und mit gehörigem Talent im Tornister eine beispiellose Weltkarriere hingelegt hat.
Unsuk Chin. Foto: Priska Ketterer
Unsuk Chin wurde nach Einlenken der Uni schließlich von ihrem koranischen Lehrer Sukhi Kang auf ihr Studium in Hamburg bei György Ligeti gut vorbereitet. Der Avantgardist lag ihr damals mit seinem Intellekt und wegen seines „Sinns für die Linie“ nahe. Der gestrenge, notorisch kritische Lehrer brachte ihr zudem bei, ihre musikalischen Ideen auf „Originalität und künstlerische Identität“ hin abzuklopfen.
Als weitere wichtige Inspirationsquelle erwies sich ihr Studium der Gamelanmusik in Bali. Unsuk Chin setzt in ihren vielschichtig strukturierten, oftmals philosophisch angereicherten Schöpfungen auf Klangmischungen und -wirkungen, die formal kühne, in vorher nie vernommene Grenzbereiche vordringende Spielereien im Sinne der europäischen Avantgarde ebenso erlauben wie mit sinnlichem Flirren in der Nachfolge etwa eines Richard Strauss oder anderer spätromantischer Grenzgänger überraschen.
Die reiche Ausdruckspalette an Mikrotönen, Geräuschfeldern bis zu elektronischen Soundherleitungen, die Bezüge zu französischer Spektralmusik, ritueller Musik, Oper und Free Jazz stehen in den Diensten eines Brückenschlags zwischen delirischen Traumräumen voll flimmernden Lichtsignalen und klar umzirkelten, grafisch transparenten architektonischen Imaginationen.
Wir lauschen fasziniert dem langsamen Entstehen riesiger Klangskulpturen, dem ständigen Versuch, gigantomanische musikalische Fantasiegewitter in eine realisierbare Form zu gießen. Improvisatorische Freiheit und rationale Ordnung, Organisation und Emotionalität müssen keine Widersprüche sein, wie das im wunderbar informativen Booklet trefflich formuliert ist. Das enthält bei näherem Interesse auch den lesenswerten Aufsatz „Klangskulpturen und Farbexplosionen – Zur Musik von Unsuk Chin“ von Kerstin Schüssler-Bach.
Naturwissenschaften und Klangfarbenbasteleien begeistern Unsuk Chin ebenso wie Tafelfreuden, Wein, Humor und Ironie. Als transkulturell oder „Weltmusik“, also als beliebige Ost-West Fusion will Unsuk Chin ihr Werk auf keinen Fall verstanden wissen.
Von den auf zwei CDs präsentierten Werken spricht mich ganz besonders das Klavierkonzert (1996/96) an, das der Pianist Sunwook Kim und das brillante Orchester unter der musikalischen Leitung von Sakari Orami im Ausdruck extrovertiert, vielzellig und stürmisch zu gestalten wissen. „Ich wollte vor allem die Aspekte Vitalität, Motorik, und Virtuosität, kurz die spielerische Seite des Klaviers herausstellen“, so die Tonsetzerin.
Bei „Rocaná“ (= Lichtraum) für Orchester unter der Leitung von Daniel Harding wiederum geht es theatralischer zu, das Stück könnte meinem Empfinden nach eine den galaktischen Raum abtastende Klangvision zu einem utopischen Streifen oder Science-Fiction Movie darstellen. Die Komponistin ließ sich von den Installationen eines Ólafur Elíasson mit projizierten bewegten Wasseroberflächen inspirieren. Die Autoren im Booklet dazu: „Die Körpervisionen suggerieren unterschiedliche Konsistenz, wirken wie Wolken aus zahllosen Kleinstkristallen, die Umrisse und Dichte ständig ändern, oder wie gläserne Figuren mit wechselnden Reflexionseigenschaften. Töne treten wie Monolithen in den Raum, vervielfachen sich, beschleunigen ihre Folge wie zu einem surrealen Tanz. Klangnebel scheinen über das Auditorium hinwegzuziehen wie in einer 3-D-Simulation.“
Opernhafter im Sinne eines Monodrams à la Schoenbergs „Erwartung“ tritt uns „Le silence des Sirènes“ für Sopran und Orchester (2014) entgegen. Youngho Kim zu seinem 70. Geburtstag gewidmet nach Texten aus Homers „Odyssee“ und James Joyces „Ulysses“ (Sirenenkapitel elf) ist die Vokalartisterei der verführerischen wie mörderischen Sirene alles andere als still. „Ihr Gesang tötet, verheißt aber auch höchstes Wissen und höchste Lust“, resümiert die Komponistin. Auf jeden Fall gelang Barbara Hannigan (mit Sir Simon Rattle am Pult) eine Wiedergabe voll dämonischer Inbrunst. Wir tauchen ein in ein Pandämonium gehauchter, gepfauchter und gestoßener Töne, der letzte Schrei wird von orchestraler Stille erwürgt. Spannend wie ein Hörbuchkrimi.
Sir Simon Rattle ist auch der Dirigent des ersten Konzerts für Violine und Orchester (2001) mit Christian Tetzlaff als vor allem im vierten Satz rauschhaft aufspielenden Solisten und einer Schlagzeuggruppe als konzertantem Widerpart. Beim Konzert für Violoncello und Orchester (2006–08, rev. 2013) ringt der Berliner Cellist Alban Gerhardt mit unglaublich magischen Tönen im Streit des tapferen David gegen den Goliath haushoher Orchesterfluten, es dirigierte Myung-Whun Chung.
Grundsätzliches: Neben zwei Audio-CDs umfasst die Edition eine Blu-ray Disc mit Konzertvideos der eingespielten Werke (mit Ausnahme des Violinkonzertes) sowie einen 45-minütigen Interviewfilm mit Unsuk Chin. Darüber hinaus enthält sie die Audiomitschnitte in hochaufgelöster Studioqualität sowie in Dolby Atmos. Die Edition und das Booklet mit ausführlichen Texten zu den Werken Unsuk Chins wurde mit von der Musik inspirierten psychedelischen Moiré-Effekten des Japaners Takahiro Kurashima gestaltet.
Fazit: Die Edition bietet nichts weniger als eine in wahrhaft großen Klängen mäandernde Weltenschau in Form musikalischer Abenteuer, die ungeteilte Konzentration erfordern. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik erzählt viel vom chaotischen Heute, von ungeahnten Möglichkeiten, geheimen Sehnsüchten, fremden Räumen und hochfliegenden Visionen voller Zukunft. Wer sich unvoreingenommen auf Unsuk Chins Musik einlässt, profitiert auf jeden Fall und hört dann vielleicht auch seinen Beethoven oder Brahms mit anderen Ohren.
Dr. Ingobert Waltenberger