CD-Buch: „MUSIC IN TIME OF WAR“: Klaviermusik und Lieder von CLAUDE DEBUSSY und KOMITAS VARDAPET; myrios classics
Kirill Gerstein, Katia Skanavi, Thomas Adès und Ruzan Mantashyan
„Leiden jedweder Art werden erträglich, wenn man darüber berichtet oder eine Geschichte daraus macht.“ Hannah Arendt „La condition de l’homme moderne“
Der Erste Weltkrieg, in Frankreich Grande Guerre genannt, tobte von 1914 bis 1918 in Europa, Asien und Afrika. 70 Millionen Bewaffnete standen sich an den beiden Kriegsfronten gegenüber, u.a. Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich versus Frankreich, Großbritannien, Russland, Italien und die USA.
In ihrem groß angelegten Projekt „Music in time of war“ oder „Der Erste Weltkrieg: Töten /Zerstören und dennoch kreieren“ (Aufsatztitel von Annette Becker im Booklet) versuchen die Pianisten Kirill Gerstein, Thomas Adès und Katia Skanavi sowie die armenische Sopranistin Ruzan Mantashyan mit musikalischen Mitteln die Kriegsfolgen für die Zivilbevölkerung und besonders Musikschaffende anhand der zu dieser Zeit entstandenen (Spät)werke von Claude Debussy und Komitas Vardapet greifbar zu machen.
Claude Debussy, ganz französischer Patriot, der auf den beiden CDs mit seinen 12 Études à la mémoire de Frédéric Chopin, den „Chansons de Bilitis“, six Épigraphes antiques für Klavier vierhändig, seinem letzten Lied „Noël des enfants qui n‘ont plus de maisons“, späten Klavierwerken (1914-17) und den drei Stücken „En blanc et noir“ für zwei Klaviere zu Ton kommt, litt unsäglich unter den Folgen des Krieges. Für den aktiven Kriegsdienst war es zu spät, also versuchte Debussy mit seinen Mitteln, Musik und philosophischer Diskurs, persönliche Antworten auf die Barbarei und die Gräueltaten zu geben oder direkt zu Wohltätigkeitsinitiativen beizutragen. Sein Motiv zu reagieren, zielte darauf ab, „ein wenig von jener Schönheit herzustellen, gegen die jene Menschen mit jener minutiösen Brutalität vorgehen, die nun einmal ‚Made in Germany‘ ist.“ (Brief von Debussy an Robert Godet, Correspondance 1872-1918, Gallimard 2005).
1915 komponierte er das Lied „Noël des Enfants qui n’ont plus de maisons = Weihnachten der Kinder, die kein Zuhause mehr haben“ auf einen eigenen Text. „Ein zorniges Gebet“, wie Avasenov meint. Der schon schwer an Krebs erkrankte Debussy wollte Frankreich mit seiner Musik moralisch beistehen, hasste aber jegliche Art von heroisch-propagandistischer Musik, jeden Klang in ‚geschwollenem Pathos‘. Debussy starb am 25. März 1918 während der letzten großen deutschen Offensive.
Auf der anderen Seite wird in dem Projekt Debussy dem verehrten Kollegen, dem armenischen Komponisten und Geistlichen Soghomon Soghomonian alias Komitas gegenübergestellt. Er wurde am 24. April 1915 festgenommen, dem Tag, der als Beginn des Angriffs auf das armenische Volk in die Geschichte einging. „Er wurde eingesperrt, deportiert, geschlagen und musste die Hinrichtungen von zahlreichen Leidensgenossen mit ansehen. Er überlebte, doch führte das Trauma dieser Erlebnisse bei ihm zu Mutismus, er verstummte“ (Annette Becker). Komitas, Pionier der Ethnomusikologie und Begründer der armenischen nationalen Musikschule, hatte Debussy und andere französische Tonsetzer 1906/07 in Paris kennengelernt, u.a. deshalb, weil Debussy sich wie Komitas für armenische Volksmusik interessierte. In unseren musikalischen Breiten kaum bekannt, wird er in Armenien ikonisch verehrt. Sein musikalisches Vermächtnis ist überschaubar und setzt sich in der Hauptsache aus Chorwerken, Liedern und Klavierstücken zusammen.
Was in Claude Debussys pianistischem Spätwerk sofort verblüfft, ist die zunehmende Kargheit und Einfachheit der musikalischen Sprache bzw. die radikale Modernisierung der Ausdrucksmittel. Der klassische „Impressionismus“, also eine gewisse Bandbreite an Emotionen nicht übertretende Farbenspiele wird zugunsten von Wutdissonanzen und alles Dunkle auf ihre flackernden Reflexionen im Kerzenschein abklopfenden harmonischen Strukturen (Debussy: „In jedem Fall verhüllen diese Etüden eine strenge Technik unter den Blumen der Harmonie.“) weit hinter sich gelassen.
Kirill Gerstein betont in den 12 Études aus dem Jahr 1915, die mit einer Übung für fünf Finger nach ‚Monsieur Czerny‘ starten, das Eruptive, die Wellenbrecher dieser Musik. Vergangenes, vielleicht die Erinnerung an die eigene frühere Musiksprache, lässt Debussy nach der Art eines Zerrspiegels ausfasern. Das Bruchstückhafte und Aufzischende einzelner Phrasen scheint nach der Lesart Gersteins etwa in der Étude ‚Pour les quartes‘ in der Luft zu verharren, einzelne Noten ploppen wild zerfahren auf, bevor zart entrückt abphrasiert wird. Gerstein als einem Meister des ausgetüftelt abgestuften Anschlags ist mit den Études ein ganz großer Wurf geglückt.
Natürlich sind diese Étüden alles andere als bloße technische Übungsstücke für mehr oder minder begabte Eleven, wie dies auch nicht in gleichgerichteten Werken Frédéric Chopins, Franz Liszts und Alexander Scriabins der Fall war. Es handelt sich um Debussys musikalisches Testament, das er in Pourville bei Dieppe – ohne ein Klavier zur Verfügung zu haben – verfasst hat.
Nehmen wir etwa die knappe, in ihren gefühlt panikfliehenden Läufen wahnhafte Étude ‚Pour les huit doigts‘ oder die siebte mit dem Titel ‚Pour les dégrès chromatiques‘, die zwischen traumverlorener Exaltiertheit und Verzweiflung mäandert. Visionär und wie hart splitterndes Porzellan zerfällt eine Welt in rasend repetierten Tönen (Étude Nr. 9). In ‚Pour les sonorités opposées‘ schöpft Gerstein alle Ausdrucksmöglichkeiten aus. Der Hörer erkennt die vielen oft ambivalenten Gefühle, die einen in äußersten Lagen befallen können.
Diese Musikstücke oder die Kunst des Pianisten Kirill Gerstein als bravourös zu beschreiben, verbietet sich bei diesen Douze Études von selbst, weil das Wort in keiner Weise die existenziellen Fragen trifft, die – nach der Lektüre der Aufsätze im Buch verstärkt – aus diesen Klangmiasmen wie Luftblasen aus einem durch Krieg verpesteten Sumpf aufsteigen. Oder man kann es trockener wie Debussy ausdrücken: „Diesseits der Technik bereiten diese Études die Pianisten wirkungsvoll auf die Einsicht vor, dass man nur mit ganz fürchterlichen Händen Zugang zur Musik finden kann.“
Programmatisch und mit klarer Aussage tritt uns Debussy in den fünf Stücken entgegen, die Kirill Gerstein gewählt hat, um Debussys späte direkte musikalische Reaktionen auf Erlebnisse und Personen rund um die Grande Guerre zu belegen. Die musikalische Sprache wirkt in diesen Anti-Kriegsstücken wie ausgedörrt, auf die Essenz reduziert. Nehmen Sie den Mini-Walzer „Page d’album pour piano pour l’oeuvre du ‚vêtement du blessé‘“ (Holliger. „ein apokalyptischer Tanz zum Weltuntergang“), die „Berceuse héroique pour rendre hommage à S.M. le roi Albert Ier de Belgique et à ses soldats“, die „Élégie“ aus den Pages inédites „Sur la Femme et la Guerre“ und besonders „Les Soirs illuminés par l’ardeur du charbon“ (1917), eines seiner letzten Stücke, das man erst 2001 wiederentdeckt hat. Debussy hat das Manuskript dem Kohlenhändler Tronquin im Gegenzug gegen eine Lieferung von im Kriegswinter schwer erhältlicher Kohle überlassen. „Es ist wie das Requiem von Mozart, nur in 24 Takten“ (Holliger). Die „Étude retrouvée“ ist eine Variante zur ‚Étude pour les arpèges composés‘, sie wurde erst 1977 entdeckt.
Vielleicht bildet den künstlerischen Kulminationspunkt der beiden Alben „En blanc et noir“ (August 1915) für zwei Klaviere, interpretiert von Kirill Gerstein und Thomas Adès. Alle drei Stücke des kleinen Zyklus weisen Widmungen auf: ‚Á mon ami A. Koussevitzky‘, ‚Au lieutenant Jacques Charlot tué á l’ennemi 1915, le 3 mars‘ und ‚À mon ami Igor Stravinsky‘. Ich kann mich nur der Meinung Heinz Holligers anschließen, der zu diesen „völlig vernachlässigten kleinen Stücken aus Debussys Spätzeit“ meint, dass sie das Tor zu einem ganzen Jahrhundert aufstoßen und eine ‚kosmische Zeit‘ präsentieren, wie das unter den Zeitgenossen nur noch bei Anton von Webern der Fall war. Französische Komponistenkollegen sahen das anders, wie etwa Camille Saint-Saëns, der die ‚Scheußlichkeiten Debussys‘ mit kubistischen Bildern vergleicht.
Anderes als bei Debussys innerer Unruhe bei formaler Stringenz ist in Komitas‘ armenischen Tänze für Klavier (1916) wesentlich. Obwohl beide die Vorliebe für Quarten und Quinten teilen, ist die Nähe zu einem anderen Musiker des 20. Jahrhunderts, ebenfalls Musikwissenschaftler und Tonsetzer, evidenter: Béla Bartók.
Auch Komitas‘ Vita ist von Tragik und Rückschlägen bestimmt. Die letzten Lebensjahre verbrachte das seit seinem elften Lebensjahr „ständig hungrige Waisenkind“ in einer psychiatrischen Klinik im Pariser Villejuif, Stadt in der Île-de-France. Man kann sich vorstellen, dass der im Priesterseminar von Etschmiadsin ausgebildete Junge es nicht leicht hatte, mit seiner Leidenschaft für das Sammeln und der schriftlichen Fixierung armenischer Volksmusik den Traditionalisten der Liturgie der Armenischen Apostolischen Kirche recht zu tun.
In seinen drei Berliner Jahren, wo Komitas Unterricht am privaten Konservatorium Richard Schmidt erhielt, wurde er zum begeisterten Opernliebhaber, der am liebsten der Musik Richard Wagners lauschte. Wieder zurück in Etschmiadsin, umreißt Artur Avanesov die Stimmungslage von Komitas basierend auf dessen Briefen aus der Zeit so: „“Ich bin allein“ und „Ich werde verrückt.“ Unermüdlich bei der Gründung von Chören in Istanbul, Alexandrien und später auf der Isle of Wight, wurde er im April 1915, als die Christenverfolgungen im Osmanischen Reich begannen, verhaftet und in das anatolische Konzentrationslager Cankiri verbracht. Drei Woche später durfte der psychisch gebrochene Mann wieder nach Istanbul zurückkehren.
Ich finde die sechs armenischen Lieder mit der Sopranistin Ruzan Mantashyan als einen besonderen Ruhepol der präsentierten Musikbeispiele. Da ist nichts von den politischen Ereignissen zu spüren. Die Lieder befassen sich in fein verklausulierten Texten und sehnsuchtswunden Klängen mit Marillenbäumen, die Freude zurückbringen sollen, dem Schnee im Frühling (erkaltetes Herz des Geliebten) oder einem enttäuschten Herzen, das mit einem zerstörten Haus verglichen wird.
Die Einspielungen entstanden im Großen Saal des Wiener Konzerthauses und in der Siemens Villa in Berlin.
Das 172 Seiten starke Hard-Cover Buch enthält zwei CDs, zahlreiche Illustrationen, vier Essays und die Liedtexte in drei Sprachen (Englisch-Deutsch-Französisch). Die Historiker Annette Becker und Khatchig Mouradian kommen ebenso zu Wort wie der Musikwissenschaftler Artur Avanesov („Bis in die Sterne geworfen und zurück: Zu Leben und Werk von Komitas Vardapet“) sowie der Komponist/Oboist Heinz Holliger im Gespräch mit Kirill Gerstein über Claude Debussy.
Wer im O-Ton darüber lesen möchte, wie der Pianist Kirill Gerstein sein neues Album erläutert, dem sei der Text unter folgendem Link in ‚backstageclassical‘ empfohlen
Fazit: Nach der Lektüre des Buchs ist man völlig anders für die (späte) Musik der beiden Komponisten sensibilisiert. Schmerzlich berührt und in staunender Bewunderung zugleich, taucht das Publikum in einen polyrhythmischen und polytonalen Kosmos aus Zerstörung und Kreativität zugleich. Die Abstraktion des Vergangenen könnte vielleicht dazu beitragen, die Ereignisse im Heute nüchterner einordnen zu können. Die Interpretationen auf den beiden Alben sind in ihrer künstlerischen Kompromisslosigkeit eine Offenbarung. Prädikat: Dringlich und Besonders Wertvoll.
Dr. Ingobert Waltenberger