CD-Buch: LOUISE BERTIN: FAUSTO – Weltersteinspielung mit Deshayes, Gauvin, Jerkunica und Darmanin; Palazzetto Bru Zane
Komponistinnen auf dem Vormarsch
Das Centre de musique romantique française beschäftigt sich schon seit Jahren erfolgreich mit der Wiederentdeckung und der internationalen Promotion des musikalischen Erbes in Frankreich der Periode 1780 bis 1920. Einen Schwerpunkt bilden die Edition und Aufnahme von Werken französischer Komponistinnen. Im letzten Jahr hat Bru Zane die 8 CD-Box „Compositrices“ veröffentlicht, die Werke von insgesamt 21 französischen Komponistinnen von 1800 bis 1920 vorstellt. Ein Füllhorn kaum bekannter Musik ist da zu genießen – Orchesterwerke, Kammermusik, Lieder und Klavierstücke, wie ich es in meiner Online Merker Besprechung vom 19.3. genauer beschrieben habe.
Nun ist die aus einem großbürgerlichen Haus stammende Louise Bertin – ihr Vater war der Direktor des Journals des débats und unterstützte die künstlerischen Ambitionen der Tochter – mit einer Opernvertonung des Goethe’schen Fauststoffes an der Reihe, die hier zu gediegenen CD-Ehren kommt. Eine Weltersteinspielung ist dieser „Fausto“, in der die Titelfigur – wie von der Komponistin vorgesehen – erstmals als Hosenrolle von einer Mezzosopranistin gesungen wird. Denn in den nur wenigen Aufführungen von der Uraufführung bis zur Schließung des Théâtre-Italien 1831 wurde die Hauptrolle dem Tenor Domenico Donzelli überantwortet. Die vieraktige Opera semiseria mit den Aktbezeichnungen ‚La tentazione‘, ‚La felicità‘, ‚Il misfatto‘ und ‚La pena‘ wurde und wird in italienischer Sprache gesungen.
Louise Bertin, die gemeinsam mit Hector Berlioz die musikalische Schulbank u.a. bei Antoine-Joseph Reicha drückte und welcher der Schöpfer von “Les Troyens“ seine „Nuits d’été“ widmete, kann erst jetzt Gerechtigkeit widerfahren, weil das komplette Autograph der Partitur und eine Kopie der Rezitative erst 2020 in der Bibliothèque national de France gefunden wurden.
So konnten sich Christophe Rousset und sein auf historischen Instrumenten spielendes Ensemble Les Talents lyriques, die für Bru Zane 2017 schon „Uthal“ von Mehul aus der Taufe gehoben hatte, im wahrsten Sinne des Wortes ans Werk machen. Schon für „Uthal“ war Karine Deshayes als Malvina engagiert, nun schlüpft sie stilistisch ideal mit einem bisweilen frappant moffoähnlich timbrierten Mezzosopran, einer an Rossini geschulten Belcanto-Agilität samt heroischer Höhe gesegnet, in die Rolle des Fausto.
1825 wagte sich die knapp über Zwanzigjährige Louise an den Fauststoff heran, der damals (Faust I wurde in Deutschland 1808 publiziert) in Frankreich nach der Veröffentlichung mehrerer Übersetzungen (darunter diejenigen von Albert Stapfer, Louis de Saint-Aulaire und von Gérard de Nerval), von zahlreichen Zeichnungen und Gravuren eine wahre „Faustomania“ auslöste. Bertin stützte sich auf die Version von Saint-Aulaire für das von ihr selbst verfasste, im Laufe der Komposition bis zur Uraufführung am 7.3.1831 veränderte und gekürzte Libretto in französischer Sprache, das sie schlussendlich von Luigi Balocchi ins Italienische übertragen ließ. Vor allem die Szenen betreffend den Pakt Fausto mit Mefistofele (hier keine Wette) sowie das Verhältnis der Figuren Catarina (die bei Bertin Marthe ersetzt), Margarita und Valentino zueinander bleiben dramaturgisch opak. Im Zentrum der Handlung steht wie später bei Charles Gounod (1859) die Liebesgeschichte von Faust und Margarita.
Bertin geht es hitziger als Goethe an, bei ihr erscheint Margarita das erste Mal schon in der dritten Szene des ersten Aktes, wo sie Faust um einen Gefallen bittet und sofort Schmetterlinge im Bauch des alten und gelehrten Mannes zu flattern beginnen. Heinrich Faust verlangt daher von der Hexe in deren Küche, dass sie ihn verjüngt.
Die Bezeichnung Opera semiseria ist, obgleich der Duktus der Oper speziell im dritten und vierten Akt doch einer Seria nahekommt, gerechtfertigt, als Bertin auch federleichte und komische Ensembles (gar köstlich beschwingt erklingt das flotte Duett Mefistofele und Catarina ‚Vi saluto, madama‘ im 2. Akt oder das im Rossini-Beschleunigungsmodus, modulationsfreudige intonierte Quartettfinale ‚Fra quell’ombra‘) einflicht. Wagner bekleidet eine typische Buffo-Dienerrolle. Dafür verzichtet Bertin auf etliche der von Goethe vorgesehenen Lieder. Und: In „Fausto“ singt nicht Mephisto sein Ständchen, sondern es ist Faust selbst, der vor dem Fenster der Geliebten schmachtet.
Das finale Ergebnis des „Fausto“ ist typisches frühromantisches französisches 19. Jahrhundert, wo nicht die philosophischen, metaphysischen und spirituellen Dimensionen des Mythos im Rampenlicht stehen, sondern glühende Emotion, Wortwitz und Kurzweil. Anm.: Bertin hat auch noch drei andere Opern geschrieben: „Guy Mannering“ nach Walter Scott, „Le Loup-garou“ nach Eugéne Scribe und „La Esmeralda“ nach Victor Hugo.
Die Musik von „Fausto“ sprüht vor melodiösen Einfällen, sie überrascht mit harmonischer Modernität und klanglicher Originalität, auch wenn sich Bertin gleich zu Beginn der Ouvertüre merklich hat von Mozarts „Don Giovanni“ inspirieren lassen. Dem damals nach italienischer Musik versessenen Paris hat Bertin Tribut gezollt, sie selbst verortet das Werk irgendwo zwischen Rossinis „Semiramide“ und Mozarts „La Clemenza di Tito“, selbstredend, ohne das französische Parfum vermissen zu lassen.
Der Grundduktus der Musik ist kraftvoll, energisch, rhythmisch fetzig und bietet zudem Platz für zart elegische Momente wie das Gebet der Margarita im dritten Akt. Zeitgenossen haben der Komponistin eine zu mächtige Instrumentierung vorgehalten, die „melodischen Ideen“ würden von den „Trommeln, Ophikleiden, Gongs und einer ganzen Armee von Trompeten“ zermalmt (Tribune des départements vom 14.3.1831), ein Vorwurf, den unsere an Richard Strauss gewöhnten Ohren nicht nachvollziehen können.
Vor allem, wenn die Oper so luxuriös, artikulationsreich, mediterran durchlüftet, quirlig, stets effektvoll theatralisch serviert wird wie von Christophe Rousset (Dirigent und Pianoforte), Les Talents Lyriques und dem Flämischen Radiochor. Die Besetzung mit der bereits genannten Karine Deshayes im Mittelpunkt ist durchweg gut: Die mehr fraulich dramatische denn mädchenhafte Karina Gauvin als Margarita, Ante Jerkunica als schelmisch wie gleich dämonischer Mefistofele, als Entdeckung der draufgängerisch höhenliebende Tenor-Belcantist Nico Darmanin als Valentino (spektakulär die virtuose Arie im dritten Akt ‚Ah, mi batte il cor nel petto‘) und die junge französische Mezzosopranistin Marie Gautrot als Catarina setzen sich in einer guten Balance aus Schöngesang und Ausdruck nachdrücklich für Bertins, für ihre Zeit visionären „Fausto“ ein. In kleinere Rollen sind Diana Axentii (una Strega, Marta) und Thibault de Damas (Wagner, un banditore) zu hören.
Je öfter ich diesen „Fausto“ höre, desto besser gefällt er mir. Auf jeden Fall bietet „Fausto“ eine musikgeschichtlich lehrreiche, amüsante und spannende Ergänzung zu all den anderen späteren Faust-Vertonungen.
Dr. Ingobert Waltenberger