CD-BUCH JULES MASSENET: GRISÉLIDIS – Conte lyrique in drei Akten und einem Prolog; Palazzetto Bru Zane
Veröffentlichung: 24.1.2025
Mit dieser „Grisélidis“ hält der Katalog der Stiftung Bru Zane, Centre de musique romantique française, Hüterin französischer Musikraritäten aus dem erweiterten 19. Jahrhundert, bei Nummer 41 an Operngesamteinspielungen. Vier davon stammen vom Komponisten Jules Massenet: Le Mage, Ariane, Werther und nun dessen Opernwurf aus dem Jahr 1901 „Grisélidis“
Da es aktuell lediglich einen nur noch antiquarisch erhältlichen Live-Mitschnitt dieser komisch-tragischen Oper vom Wexford Festival 1982 (Rosemary Landry, Sergej Leiferkus, Günter van Kannen; Dirigent: Robin Stapleton) beim Label Gala gibt, ist die sängerisch wie aufnahmetechnisch vorzügliche Aufnahme mehr als zu begrüßen.
Wie Dratwicki im Vorwort betont, komponierte Massenet diese „Grisélidis“ für die besten aller damals verfügbaren Sänger, instrumentierte üppig – unter Verwendung eines großen Streicherapparats, von Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuba, Pauken, Harfen und Schlagzeug plus einer separaten Bühnenmusik, schwelgt in verführerischen Melodien und raffinierten Harmonien, als ob er eine neue „Manon“ im Sinne gehabt hätte. Ja, es wäre so gewesen, hätte Massenet nicht als schräghumorig pseudogruseliges Element einen im Grunde gutmütigen Teufel und dessen grantelnde Gattin Fiamina in die Handlung eingefügt.
Schöngeistigkeit und Posse, edle Gefühle und Groteske sollte das Libretto von Armand Silvestre und Eugène Morand unter einen Hut bringen. Als Leitfaden diente ein mittelalterliches Volksmärchen. Griselda wurde u.a. als letzte Novelle aus Giovanni Boccaccios Decamerone (1350) bearbeitet und hatte zuvor schon Komponisten wie Vivaldi, Scarlatti, Bononcini, Paër, Piccinni und andere zu Opern inspiriert.
Ähnlich wie in Mozarts Versuchsanordnung „Così fan tutte“ geht es in „Grisélidis“ im Kern um die Frage, ob Frauen treu sein können. Ein Marquis will das anlässlich seines Aufbruchs in den Krieg austesten, nachdem zuvor der Priester des Hauses Zweifel daran geäußert hatte. Der Marquis ist von der Zuverlässigkeit seiner Grisélidis dermaßen überzeugt, dass er meint, selbst der Teufel hätte keine Chance, seine Angetraute vom rechten Weg abzubringen. Schwups entspringt der so Genannte dem Altar der heiligen Agnes. Dieser zu jedem Spott bereite Belzebub wettet mit dem Marquis, dass es keine Frau gäbe, die nicht zu einer Sünde verführbar wäre. Im Vertrauen des Gegenteils überlässt der Marquis dem Teufel als Pfand für seine Überzeugung sogar seinen Ehering und macht sich als Ritter auf zum Kreuzzug. Im zweiten Akt stellen sich der Teufel und dessen streitbare Gemahlin bei Grisélidis als Reisende aus dem Orient vor und behaupten, der Marquis hätte eine Sklavin gekauft, um sie heiraten zu können. Alle Versuche des Höllenpaars scheitern an Grisélidis Unbeirrbarkeit. Also entführen sie Grisélidis Sohn. Um ihn zu befreien, müsse sie den in sie angeblich verliebten jungen Matrosenpiraten küssen. Der herbeigerufene Marquis durchschaut das Szenario. Das Ende der Oper bis zur Befreiung des Kindes badet in Kitsch. Der Altar, vor dem der Marquis und Grisélidis beten, verwandelt sich in ein flammendes Schwert. Die Kerzen beginnen zu brennen und die Glocken zu läuten. Als Apotheose des Ganzen öffnet sich das Triptychon, die Heilige Agnes erscheint mit dem Sohn der beiden auf dem Arm, alle Gläubigen und sonst Herbeigeeilten verharren in religiöser Ekstase. Die Oper endet im Gegensatz zu Mozarts weitaus zynischerer Version mit dem Triumpf der Treue.
Alle guten Dinge sind drei: Massenet braucht drei Anläufe, bis die finale Version am 20. November 1901 an der Opéra Comique uraufgeführt wird. Ungewöhnlich ist, dass neben einem typisch französischen Sopran zwei Baritonkalibern die männlichen Hauptrollen des Marquis und des Teufels überantwortet sind. Der zu Anfang der Oper vokal auftrumpfende, in Grisélidis verliebte Schäfer Alain ist der einzige Tenor, dem Massenet aber ungeachtet der dramaturgisch wenig bedeutenden Funktion überproportional mit herrlichster Musik bedacht hat (2 Arien, großes Duett mit Grisélidis im 2. Akt).
Massenet weiß jede Figur musikalisch minutiös zu charakterisieren: So den Teufel mit pompöser Bouffonnerie, Grisélidis mit traumverhangener Romantik und frommer Zuversicht, den Marquis mit heroisch-nobler Attitüde. Grisélidis überirdisch melancholische, Arie ‚La mer! Et sur les flots toujours bleus‘ als auch das anschließende von einem Frauenchor gekrönte Gebet ‚Mon enfant, vient prier‘ aus dem zweiten Akt gehören zu den ergreifendsten Eingebungen Massenets überhaupt.
Massenet kann zudem mit den kontrastierenden Stimmungen und situativ passgenauen Orchesterfarben umgehen wie kaum ein zweiter französischer Komponist. Der Gegensatz aus verzweifelter Muttersorge um den kleinen Loys versus sarkastischen Hohn des Teufels, die typisch altehelichen Querelen von Teufel und bosnigeliger „besserer Hälfe“, die dramaturgisch so zielgenau gerührte Mixtur aus Grandezza und bissigem Humor geht wunderbar auf und lädt zu einem kurzweiligen Hörvergnügen ein. Zumal Massenet ähnlich wie Puccini ein großes Augenmerk auf feinst elaborierte kleinkalibrierte Genreszenen setzt. Dazu kommen vier stimmungsreiche Vorspiele, sentimentale bis flotte Ensembles (Duette, Terzette) drei atmosphärisch dichte Finalszenen und raffinert Melodramatisches.
Jean-Marie Zeitouni, einer der brillantesten Orchesterleiter der jungen Generation, markant in Präzision wie rauschhafter Expressivität, weiß mit dem in exotischer Farbenpracht schwelgenden Orchestre und dem Choeur national Montpellier Occitanie das mittelalterlich Fantastische sowie das romantische Parfum der Partitur genau so zum Duften zu bringen, wie er auch die grotesken Momente rhetorisch zu schärfen versteht.
Die Besetzung der fünf Hauptrollen ist nichts weniger als spektakulär gut. Allen voran Vannina Santoni als Grisélidis, eine edelschillernd timbrierte lyrische Sopranistin, die im großen Mozartfach (Pamina, Gräfin, Fiordiligi, Donna Anna) genauso zu Hause ist, wie sie als Mélisande Furore gemacht hat. Sie vermag in weiten Legatobögen genauso zu begeistern, wie sie in dieser Riesenrolle dramatisch loslegt und mit ihrer himmlischen, bruchlos flutenden Stimme zudem wahrlich Erstaunliches an femininer Innigkeit zu transportieren vermag. Als Marquis wartet der Kavaliersbariton des Thomas Dolié mit Biss, aristokratischer Kantabilität und sonorer Klangfülle auf, während sein Alter Ego, Le Diable, in Tassis Christoyannis einen wortgewandten sowie stimmlich prunkvollen, bisweilen herrlich watscheligen Teufel findet. Die elsässische Mezzosopranistin Antoinette Dennefeld darf als Fiamina streitbar und keifend alle in langen Ehen ausgelaugten Frauen mit Witz persiflieren. Und last but not least der aus Bordeaux stammende lyrische Tenor mit enormen dramatischem Potential Julien Dran als Alain, nicht zum Zug gekommener Verehrer der schönen Grisélidis. In kleineren Rollen sind Adèle Charvet (Bertrade), Adrien Fournaison (Gondeband) und Thibault de Damas (Le Prieur) zu hören.
Wie immer bei Palazzetto Bru Zane, wartet das diesmal 144 Seiten starke Buch mit weiterreichenden Informationen und vielen Illustrationen zum Werk in englischer und französischer Sprache auf
Fazit: Mit „Grisélidis“ ist eine vokal erregende und instrumental fin-de-siècle-irisierende Massenet-Oper zu entdecken. Kompositorisch kann ich keine Qualitätsunterschiede zu „Manon“ oder „Werther“ ausmachen. Der Traumcast und die orchestral schwelgerisch wie humoristisch zugespitzte musikalische Leitung sind ein Coup. Optimal gelungene Revitalisierung. Für echte Melomanen unverzichtbar!
Dr. Ingobert Waltenberger