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CD-Buch JACQUES OFFENBACH „LE VOYAGE DANS LA LUNE“; Bru Zane

04.06.2022 | cd

CD-Buch JACQUES OFFENBACH „LE VOYAGE DANS LA LUNE“; Bru Zane

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Die „erste“ Mondlandung: Science-Fiction Zauberoper mit tierischen Bühneneffekten

Opéra-féerie in vier Akten und 23 Szenen, Libretto von Albert Vanloo, Eugène Leterrier and Arnold Mortier frei nach Jules Verne – Uraufführung am Théâtre de la Gaîté, Paris am 26. Oktober 1875, wiederaufgenommen im Théâtre du Châtelet, Paris, am 31. März 1877.

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copyright Marc Ginot, Opéra national Montpellier Occitanie

Eine „gute Reise zum Mond“ wünschte US-Präsident Joe Biden Elon Musk am 3. Juni dieses Jahres, nachdem letzterer sich mit einem „super schlechten Gefühl“ in Sachen Konjunktur medial zu Wort gemeldet hatte. Was heute spöttisch herüberkommt, war zu Zeiten eines Baldassari Galuppi („Il mondo della luna“ 1750), Joseph Haydn („Il mondo della luna“ 1777) oder Leoš Janáček („Der Ausflug des Herrn Broucek zum Mond“) noch revueartige Opern-Utopie und sehnsuchtsvoll groteske Spinnerei. Die erste bemannte Mondlandung ist für den 20. Juli 1969 mit der Apollo 11 bezeugt, Neil Armstrong und Buzz Aldrin waren damals die Heroes.

In Offenbachs spektakulärer Ausstattungsoper „Le Voyage dans la lune“, von Jules Vernes‘ „Von der Erde zum Mond“ 1865 und „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ 1864 inspiriert, sind es der reiselustige Thronfolger Caprice (Null Bock auf königliche Protokolle), dessen Tutor Microscope und der königliche Vater V’lan, die sich zum Mond aufmachen.

In einem Projektil – als Reiseproviant hat man Äpfelchen und Cidre eingepackt – werden sie mit Hilfe einer gigantischen Kanone in das Weltall geschleudert. Die drei Furchtlosen landen zielgenau und wohlbehalten auf dem Mond. Die dort heimischen Bewohner, die Seleniten, wollen die komischen Erdbewohner jedoch ins Kittchen verfrachten. Sicher ist sicher. Die schöne Fantasia, Tochter des Mondkönigs Cosmos, erreicht ahnungsvoll die Begnadigung der drei Eindringliche. Als endlich alle im Palast gemütlich beieinandersitzen, erfahren unsere hormongesteuerten Erdenbewohner, dass es auf dem Mond keine Liebe und keinen Ehrgeiz gibt.

Vor allem der unsterblich in Fantasia verliebte Prinz Caprice isst frustriert, aber durchaus mit Appetit, einen Apfel. Als Fantasia von der Frucht kostet, erwidert sie augenblicklich die Leidenschaft des Feschaks. Von der eigenartigen Wirkung verblüfft, probieren zuerst die Gefährtinnen der Prinzessin, dann auch König Cosmos das unbekannte Obst und den berauschenden Liebestrank. Cosmos verliebt sich endlich in seine Frau Popotte, die fatalerweise eine Obsession für Microscope entwickelt. Wenn das nicht nach Rache schreit. V’lan, Caprice und Microscope werden zu fünf Jahren Haft ohne jegliche Verpflegung in einem erloschenen Krater verurteilt. Fantasia und Popotte wollen bei ihren irdischen Geliebten bleiben und mit ihnen sterben. In dieser verfahrenen Situation explodiert rechtzeitig der Vulkan und alle werden auf dem Mond hinausgeschleudert. Cosmos erlaubt unserer königlichen Familie samt Hauslehrer, auf die Erde zurückzukehren. Wie das gelingt, erfahren wir aber nicht mehr. Lehre aus der Geschicht‘: Mit dem Reisen sollte nicht übertrieben werden und wer erotische Abenteuer erleben will, sollte Äpfel im Gepäck haben.

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copyright Marc Ginot, Opéra national Montpellier Occitanie

„Le Voyage dans la lune“ gehört der gesprochenen Dialoge wegen eigentlich zum Genre der opéra bouffe, sie geht mit den 15 Szenenwechseln und zwei großen Balletten aber weit über die leichten französischen Operetten hinaus. Eine szenische Produktion von Laurent Pelly wurde corona-bedingt erst 2021 an der Opéra Comique in Paris realisiert. Die vorliegende komplette Einspielung ging mit einer der bisher größten Kooperationen auf dem Opernsektor einher. Olivier Fredj musste aber etliche Striche vornehmen, damit die Reiseproduktion zwischen der Opera national Montpellier, l’Opéra Grand Avignon, Clermont Auvergne Opéra, le Théâtre impérial Opéra de Compiègne, l’Opéra de Limoges, l‘Opéra national de Lorraine, l’Opéra de Marseille, l’Opéra de Massy; l’Opéra de Metz Métropole, L’Opéra de Nice Côte d’Azur, l’Opéra de Reims, l’Opéra de Rouen Normandie, l’Opéra de Toulon, Provence Méditerranée, l’Opéra de Tours, l’Opéra de Vichy et L’avant-scène Opéra Neuchâtel funktioniert.  

https://www.youtube.com/watch?v=yWK0fa2OU3E

„Le Voyage dans la lune“ ist die letzte mehrerer Opern von Jacques Offenbach, die als „Féeries“ bezeichnet werden, wie zuvor schon „Le Roi carotte“, „L’Orphée aux Enfers oder „Genevieve de Brabant“. Zu den fantastischen Opern gehört irgendwie auch „Les Contes d’Hoffmann“. Die Musik zu „Le Voyage dans la lune“ ist mit ihren eingänglichen Chören, Arietten, Couplets, Rondos, Romanzen, Märschen, Walzern, Cancans und Balletten bester Offenbach. Besonders witzig ist das „Finale de la neige“ mit all den gegurrten rrrrrr’s. Warum sich das skurrile Werk nicht im Repertoire behaupten konnte, darf als eines der vielen ungelösten Rätsel der Musikgeschichte gelten. Natürlich nimmt Offenbach damit die damalige Gesellschaft flott aufs Korn.

Bei der Uraufführung knauserte man nicht: Aus dem Pariser Jardin d’Acclimation wurden ein Strauß und ein Mehari-Kamel ausgeborgt, eine Nachbildung des Pariser Observatoriums wurde auf die Bühne gehievt, nicht minder verblüfften ein Hochofen, Mondlandschaften, Glaspalast, Perlmutttunnel und ein ausbrechender Vulkan das damalige Publikum. Das Zweiten Kaiserreich gierte nach solchen Spektakeln. Wissenschaft und Märchen, Utopien und Pantomime, all das mischte sich in Offenbachs bezaubernder Oper. Wir müssen uns heute eine Riesenshow imaginieren, um den damaligen Gepflogenheiten und Theaterusancen gerecht zu werden.  

Die kesse Science-Fiction-Operette wird in der vorliegenden Einspielung von einem temperamentvoll spielfreudigen Ensemble (Violette Polchi, Sheva Tehoval, Matthieu Lecroart, Pierre Derhet, Raphael Bremard, Thibaut Desplantes, Marie Lenormand, Christiophe Poncet de Solages und Ludivine Gombert) humorvoll und genussvoll überspitzt präsentiert. Sie verstehen es, die ironische Schärfe des Stücks adäquat umzusetzen. Chor und Orchester der Opéra National Montpellier Occitanie unter der spritzigen musikalischen Leitung des Pierre Dumoussaud reanimieren das tot geglaubte Werk, küssen die schöne Operette endgültig aus ihrem Dornröschenschlaf.  

Wunderbar, mondsüchtig könnte man werden. Sie werden es lieben!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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