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CD-Buch in limitierter Auflage: JACQUES OFFENBACH: LA VIE PARISIENNE, pièce en 5 actes melée de chant– Weltersteinspielung der Version 1866; Bru Zane

30.09.2024 | cd

CD-Buch in limitierter Auflage: JACQUES OFFENBACH: LA VIE PARISIENNE, pièce en 5 actes melée de chant– Weltersteinspielung der Version 1866; Bru Zane

Un peu de Mozart, ça ne peut pas faire de mal!“ Mme de Quimper-Karadec

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Als „Pariser Leben“ war diese Offenbach-Operette 1980 an der Wiener Volksoper zu erleben, in deutscher Sprache und deutlich gekürzt. Allerdings damals mit Martha Mödl als Madame Quimper-Karadec, was mir als junger Mödl-Verehrer natürlich gefallen hat. Die gesamte Volksopern-Prominenz von anno dazumal stand auf der Bühne: Peter Minich, Sigrid Martikke, Adolf Dallapozza, Mirjana Irosch, Ernst Gutstein und Karl Dönch. Mein erster bleibender Eindruck von diesem witzigen Stück.

Zeitensprung nach Toulouse im Jahr 2023, wo die vorliegende Aufnahme der am 31.10.1866 mit der Truppe des Palais Royal uraufgeführten Stücks entstand. Ludovic Halevy, einer der beiden Textdichter – der andere war Henri Meilhac – berichtete ausführlich von den katastrophalen Proben. Die Akteure kamen nicht mit den vokalen Schwierigkeiten, insbesondere des vierten und fünften Aktes, zurecht. Den Komödianten des Theaters im Palais Royal fehlte es an Stimme, manche suchten ihre Noten im Nirvana und der Bariton Lassouche zeigte sich mit der Tenorlage überfordert.

Also wurden vor der Uraufführung etliche Nummern nicht nur der beiden letzten Akte durch kürzere und einfacher zu exekutierende ersetzt. Manche Rollen, wie diejenige des Dieners Urbain, litten besonders unter den vorgenommenen Straffungen. Nach der Uraufführung lobte die Presse allen Simplifizierungen zum Trotz nicht zuletzt Offenbachs Vermögen, auch das Beste aus jenen Stimmen herauszuholen, die alles können, außer zu singen, was auch nur im Entferntesten den Anschein hat, etwas mit Musik zu tun zu haben (frei nach „La Liberté“). Wir wollen demnach nicht so genau wissen, wie das damals geklungen hat.

Sébastien Troester, Direktor der musikalischen Editionen von Bru Zane, hat sich alle Mühe gegeben, um an das Quellenmaterial der originalen Fassung dieses Bastards aus Vaudeville, Opéra-bouffe und Revue vor Kürzungen und Umbau von ganzen Aktteilen heranzukommen. Das Ergebnis, hören sie selber, ist fantastisch und wird in einer vor Sprachwitz und trefflichen musikalischen Pointen mit vor gesellschaftspolitischen Gemeinheiten in der Manier eines städtischen Naturalismus nur so strotzenden Umsetzung dargeboten.

Offenbach tobte sich in „La Vie parisienne“ nicht in der antiken Götterwelt aus, um die Tricksereien der Gesellschaft auf die Schaufel zu nehmen, sondern packte den Stier bei den Hörnern. Das Libretto der beiden Autoren stützte sich auf eine Reihe von damals modernen und erfolgreichen Stücken, wie auf die Komödie „Michel et Christine“ von Scribe und Dupin, „La Clef de Métella“ sowie „Brésilien“ von Meilhac und Halevy selbst oder von der Comédie-vaudeville „Photographe“. 

In „La Vie parisienne“ schließlich wird ein schwedisches Aristokratenpaar mit einer flotten, wie abgebrühten Schar an Dienern, Halbseidenen und Mitläufern, die sich als Persönlichkeiten des Second Empire gerieren, konfrontiert. Ihr Lebensstil, oder besser ihre verhaltensoriginellen Gewohnheiten, als auch das Gefälle Stadt (=Paris)-Land werden gnadenlos parodiert und durch den Kakao gezogen. Die direkten Anspielungen auf den Zweiten Deutsch-Dänischen Krieges 1864 (Dänemark, Preußen und Österreich kämpften 1864 um Schleswig und Holstein.) und die französische Militärintervention in Mexiko 1862 bis 1867 fielen zwar der Zensur zum Opfer, spielen aber im Hintergrund der Komödie eine Rolle.

Offenbach hat aber auch noch andere Pariser Institutionen aufs Korn genommen. So spielt der erste Akt am Bahnhof von Saint-Lazare, dessen Vergrößerung für die Weltausstellung 1867 auf sich warten ließ und erst in letzter Minute klappte oder die spekulativen Investitionen in das Viertel rund um das von allen Schicken und Reichen besuchte „Café anglais“ beim Palais Royal mit seinen 22 Salons und Privatzimmern. Auch aus dem Kulturleben wird ausgiebig zitiert. Das reicht von der Erwähnung der Patti in Donizettis „Don Pasquale“, die sich die Baronin genauso wie Théresa im „Le Sapeur“ anhören will. Théresa war ein vergöttertes Idol der Pariser Café-Concerts von Alcazar bis zum Théâtre an der Porte Saint-Martin. Im fünften Akt hat Offenbach freizügig aus „Don Giovanni“ zitiert, nicht zuletzt, weil 1866 parallel zwei Aufführungsserien dieser Mozart-Oper in Paris liefen. Er lässt aber auch dessen finale Ballszene imitierend, Melodien aus „Orphée aux enfers“ und „La belle Hélène“ anklingen.

Ganz genau gehen Marie Humbert und Sébastien Troester in einem 17-seitigen Aufsatz (in englischer und französischer Sprache) auf die Musik der ersten Version ein. Für eine derartige Besprechung muss der Hinweis genügen, dass es sich um die vollständigste Fassung überhaupt handelt, wobei Offenbach seine Sänger und Sängerinnen überhaupt nicht schont.

Die musikalische Seite der Aufnahme ist nichts weniger als genial genrekongruent, komödiantisch, ziergesanglich anspruchsvoll – manche Ensembles erinnern frappant an Rossini – und höchst (schlüpfrig) amüsant. Es geht bei Offenbach ja nicht primär um die schönsten Stimmen, sondern diejenigen, die Sprachkunst und Melos mit expressiver Eindringlichkeit, fein ironisierendem Humor und musikalischem Schelmentum am besten zur Geltung bringen. Diesbezüglich hat Bru Zane eine Besetzung zusammengetrommelt, die für all diese Vorzüge steht:

Als da wären die flinke Koloratursoubrette Anne-Catherine Gillet als Handschuhmacherin Gabrielle, die große Véronique Gens als temperamentvolle wie rassige Halbweltdame Métella, die wunderbare frz. Sopranistin Sandrine Buendia als opernaffine Baronne de Gondremarck. Der Pianist und Bariton Jérôme Boutillier verströmt reichlich Testosteron als ihr erotisch abenteuerlüsterner Gatte und Gutsbesitzer Baron de Gondremarck. Die sonore wie höhensichere Mezzosopranistin Marie Gautrot darf als autoritäre Madame de Quimper-Karadec die Fäden ziehen. Die effektvolle akustische Bühne bevölkern weiters die französisch-russische Sopranistin Elena Galitskaya als „Admiralin“ spielendes Stubenmädchen Pauline, ihr Kumpan, der Schuster Jean Frick, wird von Pierre Derhet verkörpert (er reüssiert zusätzlich auch in den Rollen von Le Brésilien und des Bedienten Gontram als gewandter Charaktertenor). Die beiden Lebemänner Raoul de Gardefeu und Bobinet; letzterer Neffe der Quimper-Karadec, haben vorerst einmal von den Launen Métellas die Nase voll. Bei der improvisierten Table-d’hôte des „Grandhotel“ schlüpft Raoul in die Uniform eines Admirals. Der Tenor Artavazd Sargsyan und der Baritenor Marc Mauillon verleihen den beiden Hochstaplern ein stimmlich kantiges Profil.

In weiteren Rollen hören wir Caroline Meng als Mme de Folle-Verdure, Louise Pingeot als Clara, Marie Kalinine als Bertha, Philippe Estèphe als Urbain, Alfred, Employé sowie Carl Ghazarossian als Prosper, Joseph und Alphonse.

Als flink-spannungsreiche Klammer der Aufnahme darf gelten, wie Dirigent Romain Dumas die Kräfte des Orchestre national du Capitole de Toulouse und den Choeur de l’Operá national du Capitole de Toulouse schwungvoll und facettenreich durch die Raffinessen dieser Meisterpartitur lotst. Besonders die zahlreichen Ensembleszenen profitieren vom agogisch feinen Gespür dieses exzeptionellen Musikers. Romantik und Ironie, orgiastische Ausgelassenheit und spitzer Humor, Verlogenheit und das qui pro quo der auch musikalisch doppelten Existenzen einer auf Angeberei und Vortäuschung spezialisierten Stadtgesellschaft, all das gerinnt in „La Vie parisienne“ zu einem Sitten- und parodistisch Klang-Schlachtenbild Offenbachscher Provenienz.

Herrlich amüsant und musikalisch top!

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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