CD-Buch: ÉDOUARD LALO: LE ROI D’YS – Opéra français BRU ZANE
Im bretonischen Kerne (Cornouaille) tobt der Krieg zwischen Prinz Karnac und den Einwohnern der Stadt Ys. Eine Bedingung für einen möglichen Frieden besteht darin, dass Karnac die Prinzessin Margared bekommt. Krieg ist, wie wir wissen, ja immer auch ein großes Geschäft, wo sich die Stärkeren nehmen, was sie wollen. Da es hier aber nicht um Land, Bodenschätze, Erdöl etc., sondern um die Liebe einer Frau geht, stellt sich die Sache ein wenig komplizierter dar. Vor allem, weil Margared in den schmucken Krieger Mylio verliebt ist, denselben Helden, mit dem ihre Schwester Rozenn eine noch unschuldige Liebesaffäre laufen hat. Als der gefallen geglaubte Mylio pumperlgesund vom Schlachtfeld zurückkehrt, zieht Margared ihre dem väterlichen König (obwohl titelgebend, ist er nur eine Randfigur in der Oper) erteilte Zusage der Hochzeit mit Karnac zurück. Also ist blutige Rache des beleidigten Gegners angesagt und die beiden Heere stehen sich wieder gegenüber.
Margareds Eifersucht erhält noch einmal einen nährenden Schub, als bei einem Sieg von Ys Mylio die Hand Rozenns bekommen soll. Margared, von der liebenden Frau zum Rachemonster mutiert, verflucht ihre Schwester. Als eine Art teuflisch mörderischer Untergangsheroine verbündet sie sich mit dem besiegten Karnac, um die ganze Stadt Ys in den Abgrund zu reißen. Die ganze Stadt und all ihre Einwohner sollen nämlich dem Plan der beiden zufolge nach Öffnen der schützenden Schleusen in den Wasserfluten ertrinken. Eine warnende Waltraute wie in er Götterdämmerung gibt es nicht, dafür taucht rechtzeitig der Heilige Corentin von Quimper auf, einer der sieben Gründerheiligen der Bretagne. Der erscheint zuerst im zweiten Akt und drängt das ungleiche Rachepaar zur Aufgabe.
Aber Margared kann es nicht lassen und öffnet während der Hochzeitszeremonie die Ventile. Die Stadt ist geflutet, die Bevölkerung rettet sich auf eine Anhöhe. Da hilft auch nicht, dass Mylio Karnac tötet. Erst als Margared ihre Tat bereut, sie öffentlich bekennt und sich schuldbewusst in den Ozean wirft, erfüllt sich die Prophezeiung des Corentin: Die Wasser, die die Ungläubige verschlungen haben, gehen wieder zurück. So findet dieses kriegerische Liebesdrama, erweitert um einen aus psychopathischer Eifersucht begangenen terroristischen Angriff, zu einem Überlebens-Ende für die Bevölkerung. Als strahlendes Happy End würde den Ausgang der Oper – trotz göttlicher Lenkung – wohl kaum jemand bezeichnen.
Zu dieser mittelalterlichen bretonischen Legende, von Édouard Blau zu einem Libretto umgestaltet (die ursprüngliche Geschichte drehte sich um den Mord des Königs Gradlon an seiner Tochter Dahut, um sein eigenes Leben vor den Fluten zu retten), schrieb Édouard Lalo eine durch folkloristische Chöre untersetzte hochdramatische Musik. Dem Komponisten gelang in der langen Entstehungs- und Korrekturphase von ca. zehn Jahren ein spannender Opernthriller mit einer Spieldauer von einer Stunde 40 Minuten.
Die Entstehungsgeschichte verlief, wie bereits angedeutet, alles andere als rund. 1875 mit der Niederschrift begonnen, fand die Uraufführung erst 1888 in der Pariser Opéra comqiue statt. 1878 wurde Le Roi d’Ys vom Théâtre Lyrique angenommen und dann wieder zurückgezogen. 1879 wurde sie von der Opera de Paris abgelehnt. Wer weiß, wozu Hindernisse künstlerisch am Ende gut sind? Alexandre Dratwicki vermutet, dass die Schwierigkeiten mit der Akzeptanz der musikalischen und dramaturgischen Qualität der Oper Le Roi d‘Ys gutgetan hätten. Der Komponist hatte so genügend Zeit, sein Werk reifen zu lassen. In einer großen Umarbeitungswelle 1886 dampfte Lalo das ursprünglich vieraktige Stück samt Ballett auf drei Akte ohne Ballett radikal ein.
Le Roi d’Ys startet mit einer zehnminütigen symphonischen Pot-pourri-Ouvertüre, in der die ansprechendsten musikalischen Themen vorgestellt werden. Danach geht es in der Hauptsache um die Rivalität der beiden Schwestern um Mylio (lyrischer Tenor mit heldischer Attacke gefordert), wobei die Hauptrolle der dämonischen Margared einem dunklen Mezzo und diejenige der charakterlich lauteren Schwester Rozenn einer lyrischen Sopranistin anvertraut ist. Natürlich bot sich dem wagneraffinen Lalo eine wunderbare Gelegenheit, die Wasserfluten in aller bedrohlichen Drastik lautmalerisch genüsslich wallen zu lassen.
Im Grunde handelt es sich aber keineswegs um eine durchkomponierte Oper, sondern sie besteht aus klassischen Nummern wie Chören, Arien, Duetten und Quartett. Diese Formen verkürzte Lalo jedoch in der gezielten Absicht, die dramatische Aktion zu beschleunigen, was sehr gut gelang. Statt Wagnerscher Leitmotive setzte Lalo auf typisch französische Erinnerungsmotive, die ohne harmonische bzw. melodische Transformation auskommen. Auch verzichtete Lalo bei der Instrumentierung auf das damals klangfarblich so gern eingesetzte Englischhorn oder Harfen.
Die musikalische Umsetzung dieser im Jänner 2024 in Budapest (Müpa) entstandenen Aufnahme profitiert in erster Linie von der dramatisch ungemein aufgepeitschten musikalischen Leitung des György Vashegyi, der das Hungarian National Philharmonic Orchestra und den Ungarischen Nationalchor zu Höchstleistungen animiert. Wie das Orchester die melodischen Gesangslinien atmosphärisch verdichtet und erzählerisch intensiviert, ist ganz große Klasse.
Die Besetzung wird von Kate Aldrich angeführt, die der an sich negativen Figur der Margared mit großem Vibrato und ebenso tobendem Mezzo-Furor auch introspektiv leisere Töne und so komplexere Seelenfarben abgewinnen kann. Judith van Wanroij als Rozenn ist mit ihrem hellen Sopran wieder in besserer Form als vor einiger Zeit, neigt aber dennoch in der Höhe bisweilen zu Enge.
Mein absoluter Favorit der Aufnahme ist Cyrille Dubois als Mylio. Sein flexibler Tenor, der in so zahlreichen Aufnahmen französischer Barockopern als von Timbre und Stimmtechnik her einzigartiger Haute Contre Operngeschichte geschrieben hat, zeigt in Le Roi d’Ys, dass ihm nun neben verführerischem Schmelz und lyrischer Verzückung ohne Anstrengung auch heldischere Töne zur Verfügung stehen. Eine Gesangsleistung, die vorbehaltlos begeistert und auf die weitere Entwicklung dieses großen Künstlers neugierig macht. Bislang kannte ich von „Le Roi d’Ys“ lediglich die Tenorarie ‚Puisqu’on ne peut fléchir ces jalouses gardiennes…. Vainement, ma bien-aimée‘ aus dem dritten Akt mit Jonas Kaufmann (Arienalbum „Opera“ Sony mit dem Bayerischen Staatsorchester unter Bertrand de Billy, veröffentlicht 2017).
Jerôme Boutiller leiht der thematisch wenig ausgeformten Figur des Karnac seinen viril-heldischen Bariton. Nicolas Courjal gibt mit seinem leider allzu ausgesungenen Bass einen wenig markanten König. Dafür reüssiert der lyrische Bariton Christian Helmer als Jahel und Saint Corentin.
Da die bisherigen Referenz-Aufnahmen dirigiert von André Cluytens und Pierre Dervaux derzeit nur noch antiquarisch erhältlich sind, ist die auch technisch auf audiophilem Niveau vorliegende Gesamteinspielung sehr zu begrüßen. Orchestral grandios realisiert, befriedigt die Besetzung nicht uneingeschränkt.
Dr. Ingobert Waltenberger