CD-Buch: Camille Saint-Saëns: L’ANCÊTRE – Weltersteinspielung in einer limitierten Edition; Bru Zane
Live-Mitschnitt aus dem Auditorium Rainier III. vom Oktober 2024
Vendetta frisst – frei nach dem berühmten Revolutionsspruch des Girondisten Pierre Victurnien Vergniaud – wie Saturn ihre eigenen Kinder oder das sture Matriarchat macht’s auch nicht besser. Das wäre Saint-Saëns letzte Oper „LAncêtre“ (=“Die Alte“) auf den Punkt gebracht.
In Saint-Saëns siebenter Gesamtaufnahme für Bru Zane, dem drame lyrique „L’Ancêtre“ nach einem nicht gerade sehr originellen oder psychologisch ausgefeilten Textbuch von Lucien Augé de Lassus geht es um primitive Blutrache und den gottgegebenen Hass zweier korsischer Clans aufeinander.
Die Gegenspieler in dieser auf ein Liebesdrama zwischen Angehörigen der verfeindeten Familien Fabiani und Piétra Néra konzentrierten Oper sind der um Versöhnung bemühte Eremit Raphaël und das starr-archaische Familienoberhaupt Nunciata der Fabianis. Pech, dass die fast blinde Racheoma, die schon ihren Enkel Léandri in der Absicht, Tébaldo zu ermorden (Tébaldo überlebt, Léandri stirbt), losschickt, auf dem Gewissen hat. Als ihre andere Enkelin Vanina sich dem Befehl Nunciatas widersetzt, Tébaldo zu erschießen, feuert die Alte selbst einen Schuss ab und tötet so statt Tébaldo Vanina.
Das eigentliche Liebespaar Tébaldo und Margarita kommt so zwar mit dem Leben davon. Aber als große Frage bleibt: Warum eigentlich stellt sich niemand von den jungen Leuten dem sinnlosen Wahnsinn der rasenden Alten entgegen? Das Opernpublikum wird es nicht erfahren. Es kann sich vielmehr selbst auf solch absurde soziale Zwänge einer tödlichen Hass vererbenden, ehrenbesessenen, das Individuum völlig ignorierenden Gesellschaft seinen schiefen Reim machen.
Saint-Saëns komponierte das lyrische Drama L’Ancêtre 1905/06 im Auftrag des Fürsten Albert I. von Monaco für die Opéra de Monte-Carlo. Der geschickte Impresario Raoul Gunsbourg konnte zu seiner Zeit die französischen Opernsuperstars Massenet und Saint-Saëns dazu bewegen, etliche ihrer Werke für eine Uraufführung in Monte Carlo vorzusehen.
Die Lust des alternden Saint-Saëns, der dachte, mit „Hélène“ wäre das Genre für ihn persönlich erschöpft, L’Ancêtre zu schreiben, hielt sich jedoch in Grenzen. Und man spürt es: Die Inspiration und Inventionskraft des Komponisten betr. die vokalen Parts (Soli, Chor) zeigen sich in dem „90-Minüter“ nicht auf der Höhe früherer Werke.
Die Partitur sorgt sicherlich für romantischen Schauer, Suspense und (irgendwie plastisch filmische) Effekte, aber da ist es vor allem der Orchesterpart, der trotz des grauslichen Sujets in rhythmischer Raffinesse und zugleich impressionistischer Schönheit als Ausdruck eines subtil gezeichneten atmosphärischen Chiaroscuro den Hörer für sich einnimmt. Ein Kennenlernen des erstaunlich lyrisch startenden Werks via Tonträger oder in konzertanter Manier lohnt sich allemal. Eine echte szenische Renaissance der dramaturgisch soliden, aber gemessen an der Zeit ihrer Entstehung ganz im 19. Jahrhundert befangenen Oper auf heutigen Opernbühnen kann ich mir hingegen entgegen der Ansicht von Alexandre Dratwicki, es handle sich um ein verkanntes Werk, nicht vorstellen. Des ungeachtet bietet vor allem der dritte Akt mit Prélude, Terzett (Margarita, Tébaldo, Raphaël) und Quartett (Margarita, Vanina, Nunciata, Tébaldo) französische Oper in all ihrer pompösen Pracht.
Die Besetzung mit dem lyrischen madegassischen Bariton Michael Arivony (Raphaël), der sonoren französischen Mezzosopranistin Gaëlle Arquez (Vanina), der vibratowogenden und höhenscharfen Sopranistin Hélène Carpentier (Margarita), der aus Lyon stammenden, aussichtsreichen Tenorhoffnung Julien Henric (Tébaldo), der als verbitterter ancêtre wüst auftrumpfenden Jennifer Holloway (Nunciata), Matthieu Lécroart (Bursica) und Yui Yoshino (une femme) bietet gediegene Gesangleistungen, kommt aber nur selten in jene jedes Melomanenherz befeuernden Gänge, die große Oper ausmacht.
Der Tokyo Philharmonic Chorus und vor allem das exzellente Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, unter der beherzten wie allen Farbenreichtum der Partitur auffächernden musikalischen Leitung von Kazuki Yamada sind die letztendlich großen Atouts der Aufnahme, die Lust auf ein zweites (oder drittes) Hören machen.
Wie immer bei den sorgfältig editierten Publikationen von Bru Zane, gehören ein gediegenes Hard-cover Buch-Layout, musikwissenschaftlich fundierte Informationen sowie das Textbuch in französischer und englischer Sprache zur längst lieb gewordenen Standardausstattung.
Dr. Ingobert Waltenberger