Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD-Box „THE COMPLETE CARL SEEMANN EDITION“ – Deutsche Grammophon

15.08.2022 | cd

CD-Box „THE COMPLETE CARL SEEMANN EDITION“ – Deutsche Grammophon

Von quasi Null auf Hundert – die wichtigste Rehabilitation eines maßstabsetzenden Pianisten auf Tonträgern!

seema

Carl Seemann ist heute abgesehen von älteren Spezialisten vielleicht noch als Kammermusikpartner von Wolfgang Schneiderhan einigen Liebhabern von Klaviermusik ein Begriff. In den fünfziger Jahren – die meisten der Aufnahmen der Box entstammen genau dieser Periode – galt er als gediegen verlässlicher Musiker. Wie schon Joachim Kaiser in seinem 1999 erschienen Aufsatz anlässlich des Erscheinens einer 4 CD-Box mit Aufnahmen von Bach, Beethoven, Brahms, Debussy, Haydn, Mozart, Prokofjew und Schumann trefflich analysierte, überstrahlte in diesem Jahrzehnt die startumrankte Virtuosität von Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz, Svjatoslav Richter und Emil Gilels alles, was niedrigschwelliger ebenso brillant und musikalisch wert war. Zu diesem daraus resultierenden Fehlurteil betreffs Seemann trugen auch manche Kritiker bei, die Seemanns Spiel als „Graubrot“ oder schlimmer brandmarkten.

Heute kann nach Abhören der Box nur gesagt werden: Seemann war ein Visionär, ein detailbesessener Musiker, der Mozart „ohne persönliches Zutun“ in den fünfziger Jahren ebenso transparent, ergo modern und aus der Barockmusik gedacht spielte wie das heute z.B. Andreas Staier oder Alexander Melnikov ganz selbstverständlich tun. Mozart wird hier nicht als populärer Rokoko-Schussel verklärt noch dämonisiert. Mozart so auf die sternenklaren Strukturen seiner Musik zu fokussieren und nicht auf irgendeine subjektive Gefühligkeit, erweist sich als nützlich und wertvoll. Denn daraus treten stärker als bei anderen Aufnahmen etwa des Klavierkonzerts Nr. 26 in D-Dur „Krönungskonzert“, dem Konzert für zwei Klaviere Nr. 10 in Es-Dur (mit Andor Foldes als Partner), beides mit den Berliner Philharmonikern unter der musikalischen Leitung von Fritz Lehmann, oder der Gesamtaufnahme aller Mozart’schen Klaviersonaten die Intellektualität, der Humor und das feenhafte Schweben der Musik in den Vordergrund.

Was Johann Sebastian Bach (CD 1) anlangt, so finden wir Carl Seemann stilistisch ähnlicher im Fahrwasser von Glenn Gould verortet, denn im opernhaft spirituellen Geist von Karl Richter. Als gelernter Organist verdoppelte Seemann zeitweise die Bassoktaven oder die Orgelpunkte, er nahm sich gewisse Freiheiten, vertrat aber als Solist auf dem Steinway einen pedalarmen, kristallinen Ansatz. Dieses Bachspiel fasziniert heute im selben Maß wie beim musikhistorisch als einzigartig spektakulär geltenden Gould.

Außerdem ist Seemanns Einsatz für die klassische Moderne und damals zeitgenössische Musik erst jetzt im ganzen Ausmaß zu würdigen. Die Sonate etwa für zwei Klaviere und Schlagzeug von Béla Bartók mit Edith Picht-Axenfeld als Partnerin und den Herren Ludwig Porth und Karl Peinkofer als Perkussionisten darf wohl zu den aufregendsten und besten im Katalog gezählt werden. Fokussiert auf präzise Rhythmen und eine mathematisch genaue Polyphonie war Carl Seemann einer partiturgetreuen Lesart verpflichtet, die ihn als idealen Interpreten neuer deutscher Musik (Karl Amadeus Hartmann, Paul Hindemith) auswies. Diesem seinem Engagement für die Moderne verdanken wir, dass heute Raritäten wie etwa die „Movements“ für Klavier und Orchester von Wolfgang Fortner mit dem NDR-Sinfonieorchester unter Hans Schmidt-Isserstedt oder die „Römischen Elegien“ für Sprecher, Klavier, Cembalo und Kontrabass von Giselher Klebe (mit dem jungen Bernhard Minetti als Erzähler) gehört und als maßgebliche Kompositionen der Zeit respektiert werden können.

Mindestens genauso erstaunlich und unerwartet sind die Interpretationen von Solowerken des Johannes Brahms. Ganz und gar nicht sachlich, entführt uns Seemann hier in die ferne Zukunft genauso wie zu einem späten empfindsamen, unheimlich aus dem Grab leuchtenden Mozart. Johannes Brahms als Bindeglied der deutschen Klassik und Schönberg/Shostakovich hat wohl niemand so auf den Punkt gebracht wie Seemann mit seinen fast als ungeheuerlich zu bezeichnenden Wiedergaben der „Ballade“ in d-Moll nach der schottischen Ballade „Edward“, den sieben „Fantasien“ Op. 116 oder den 16 Walzern Op. 39. Da hämmert einer martialisch und expressionistisch in die Tasten als gäbe es kein Morgen mehr bzw. beraubt die Walzer aller weinseligen Dreiviertellarmoyanz. Brahms aus einer wahrlich radikalen wie tiefsinnigen Betrachtungsweise her verstanden.

Überhaupt verblüfft die Bandbreite an Herangehensweisen an die einzelnen Komponisten, sodass es sich verbietet, Seemanns Interpretationen in irgendeine Schublade zu stecken. Carl Seemann nur als einen sachlichen, einen expressiven oder kühlen Musiker zu bezeichnen, trifft nicht zu.

Dass Seemann ein begnadeter und teamfähiger Kammermusiker mit Rückgrat war, beweist seine legendäre Partnerschaft mit dem österreichischen Geiger Wolfgang Schneiderhan. 12 von den insgesamt 25 CDs und eine Blu-ray mit allen Sonaten für Klavier und Violine von Ludwig van Beethoven sind dieser Zusammenarbeit gewidmet. Neben Beethoven sind auf der Box Werke für Violine und Klavier von Brahms, Schubert, Schumann, Franck, Prokofiev, Bartók, Debussy und Hindemith zu hören. Seemann und Schneiderhan treten hier nicht in eine konkurrierend dialektische Auseinandersetzung zwischen den beiden Soloinstrumenten, sondern ergänzen einander auf einzigartige Weise. Die Aufnahmen sind von großer Klarheit geprägt, Zuschreibungen wie charismatisch, klanglich ausbalanciert, „spontan direkt und kraftvoll, klangsinnlich im Vibrato, aber ohne Übertreibungen und Manierismen“ bei Schneiderhan und „kultiviert, mit einem sehr konkreten Anschlag mit wenig Pedaleinsatz, prägnant, perlend, transparent“ für Seemann (Norbert Hornig 2010) treffen den Nagel auf den Kopf.

Was das klangliche Remastering durch Rainer Maillard (Emil Berliner Studios) anlangt, darf ebenfalls von einer ideal geglückten, sensitiv auf den neuesten technischen Erkenntnissen aufbauenden Restaurierung der Bänder berichtet werden.

Carl Seemann, ab 1946 Professor und Leiter der Musikabteilung Tasteninstrument an der Musikhochschule in Freiburg, der als „Künstler zwischen den Generationen“ und nicht zuletzt wegen der Erfolge des Duos Schneiderhan/ Seemann als Solist in Vergessenheit geriet, ist auf der vorliegenden Box als eminenter Pianist mit einer großen Repertoire-Bandbreite wieder zu entdecken und für alle Zeiten unabhängig von unzutreffenden historischen Festlegungen unbefangen und neu zu bewerten.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken