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CD Box Pierre Boulez, the Conductor – Complete Recordings on Deutsche Grammophon & Philips

02.02.2022 | cd

CD Box Pierre Boulez, the Conductor – Complete Recordings on Deutsche Grammophon & Philips

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Den letzten Ring-Durchlauf des Patrice Chéreau-Rings in Bayreuth unter der fabulösen musikalischen Leitung von Pierre Boulez konnte ich dank Hans Edlauers Karten-Organisationstalent beinahe noch als Opernnovizen-Jungspund miterleben. Natürlich haben wir damals für Gwyneth Jones gejubelt, aber uns war ebenso klar, wie besonders aufregend da insgesamt musiziert wurde. Durchhörbar, voller kammermusikalischer Duftigkeit, mit enormer Innenspannung und (film)musikalischem Zug hin zu den Höhepunkten, einer Temporegie generell auf der flüssig-flotten Seite, plastisch-architektonischer Klanggestaltung, Liebe zum leitmotivischen Detail aber auch der Kraft, blitzende Bögen zu spannen und eine goldene Balance zwischen Orchester und Sängern zu halten. Pierre Boulez als Ring-Dirigent fügt sich insoweit nahtlos in die Stilistik eines Clemens Krauss oder Herbert von Karajan. Auch beim Wiederhören bzw. Wiedersehen (die Filmqualität erweist sich aus heutiger Sicht im Gegensatz zur stupenden Tonqualität trotz Blu-ray Formats als veraltet; das aufregende Bühnenbild entwarf Richard Peduzzi, die Kostüme schuf Jacques Schmidt), stellt sich heraus, dass das Erinnerte ziemlich exakt mit dem fix Überprüfbaren übereinstimmt. Solche, wie jede zeitlos gültige Kunst braucht keine Verklärung. Wie auf der Bühne, so ersetzte auch im Graben das an menschlichem Maß ausgerichtete Drama, alle unmittelbar aus der persönlichen Konstellation der Protagonisten hergeleiteten Emotionen jegliches mythologisch-göttliche Pathos. Wahrlich großes Theater und tief empfundene musikalische Momente zum nochmaligen oder vielleicht auch erstem Erleben. Genauso vorbehaltlos zu empfehlen ist der Mitschnitt des Bayreuther Parsifal aus dem Jahr 1970 in der Besetzung Gwyneth Jones (Kundry), James King (Parsifal), Thomas Stewart (Amfortas), Karl Ridderbusch (Titurel), Franz Crass (Gurnemanz) und Donald Mclntyre (Klingsor).

Es wäre unzulässig simplifiziert und zu kurz gegriffen, wenn Boulez nur als klarer Geist, scharfer Intellektueller und präziser Analytiker charakterisiert wird. Natürlich war er das, aber Boulez war ebenso ein feiner Klanggeist, ein eleganter Grandseigneur mit revolutionärem Touch, sicherlich ebenso ein Antitraditionalist, der nichts hinzubuttert, sondern jemand, der wie etwa Michael Gielen der Wirkung der Partituren aus sich selbst heraus vertraut, auf ihre Formvollendung achtet. „Die Analyse ist nur ein Vorstadium, eine Vorbereitung. …Zuerst muss man sich klare Gedanken machen. Anschließend kann man spontan sein. Die richtige Spontaneität kommt nach der Analyse.“

Boulez war ein asketischer Genießer, dessen Champagnerglas aber stets munter perlte. Man höre bloß Wagners Vorspiel zum ersten Akt von „Tristan und Isolde“ mit dem Gustav Mahler Jugendorchester. Wie superb romantisch bauscht es sich, wie wunderbar wird die kommende Geschichte hier auch erzählerisch aufbereitet. Und wieder fällt mir im Ergebnis die Parallele zu Karajan auf, auch wenn beide Persönlichkeiten vom Ansatz und Typus her unterschiedlicher nicht hätten sein könnten.

Wenn wir schon bei den Opern der Box sind, so sind noch die zu Recht allseits gerühmten, zeitlos modernen Interpretationen von Alban Bergs „Lulu“ mit dem rekonstruierten dritten Akt von Friedrich Cerha und Teresa Stratas in der Titelrolle (Boulez dirigiert das Orchestre de l’Opéra de Paris voller Biss, Witz und all der aus der erotisch absurden Krimigroteske erwachsenden Gefühlsachterbahn) und Béla Bartóks archaisch düsterer „Herzog Blaubart“ mit Jessye Norman und László Polgár als Protagonisten mehr als eine Erwähnung wert. Zudem ist hier „Moses und Aaron“ von Arnold Schoenberg aus dem Concertgebouw 1995 der Vollständigkeit halber zu listen.

Aber auch Pierre Boulez‘ symphonisch künstlerisches Vermächtnis auf Tonträgern ist exquisit. Mit den besten Klangkörpern und Toningenieuren der Welt erkundete der französische, persönlich kartesianisch gestrickte Komponist und Dirigent – immerhin war er studierter Mathematiker – sein bevorzugtes Repertoire zwischen Mahler, der klassischen Moderne bis hin zu Zeitgenossen und seinen eigenen Werken. Ein wenig Berlioz, Liszt oder  Bruckner (8. Symphonie in c-Moll mit den Wiener Philharmonikern aus St. Florian) bilden da als Ausnahme die Bestätigung der Regel. Wir hören das Chicago Symphony Orchestra,das Orchestre du Theatre National de l’Opera de Paris, das Cleveland Orchestra, das Ensemble Modern Orchestra, das Ensemble InterContemporain, die Wiener Philharmoniker, die Staatskapelle Berlin, die Berliner Philharmoniker, das Concertgebouw Orchestra sowie das wunderbare Orchester der Bayreuther Festspiele (da mischen sich wohl herausragende Instrumentalisten aus dem deutschsprachigen Raum zu ihrem persönlichen Sommernachtstraum).

Boulez kann seine Lehrer am Konservatorium René Leibowitz als Interpret, aber auch Olivier Messiaen als Vorbild für seine Experimente als serieller Komponist nicht verleugnen, wiewohl er den Unterricht mit dem Zählen der Reihen von 1 bis 12 rauf und runter völlig uninspirierend fand. Als Avantgardist setzt er in „Répons“ aber auch im „Dialogue de l‘ombre double“ elektronische Hilfsmittel ein. Boulez war Komponist, Dirigent, Lehrer und Essayist. Ein stilprägender Orchestererzieher, am Ende ein Freiheitsliebender, der Generationen an (nach)schöpferischen Musikern, unter ihnen Simon Rattle oder Jörg Widmann, tief beeindruckte und nachhaltig beeinflusste. 

Das Französische in der Musik bestand für Boulez im Gebrauch der Klangfarbe, der außerordentlichen Delikatesse und Sicherheit der Tönung. Daher sind auch seine Aufnahmen der Werke Claude Debussys oder Maurice Ravels für die Deutsche Grammophon (u.a. mit dem technisch so perfekten Cleveland Orchestra) mit das Beste der diskographischen Hinterlassenschaft. 

Zu Igor Stravinsky, dem „halbherzigen Revolutionär“ fielen Boulez als jungem Mann und im 1951 verfassten Aufsatz „Stravinsky demeure“ durchaus kritische Wort ein. Der „Sacre“ trage den Keim für das Unvermögen Stravinskys in sich. Zu umstürzlerischen Rhythmen geselle sich eine unverzeihliche Konsolidierung der tonalen Sprache. Dieses harschen Urteils ungeachtet sind die Einspielungen aller wichtigen großen Orchesterwerke   Referenzen im Katalog. 

Nicht ganz so einmütig fällt das Urteil der Wissenden über die Mahler-Interpretationen von Pierre Boulez aus. Mag sein, es handelt sich um eine Alterserscheinung, dass mir diese so kammermusikalisch durchhörbaren Platten in ihrem nervösen Schimmern dennoch ganz und gar behagen. Natürlich wird man vergeblich auf den großen weltumarmenden Gestus, das so schöne Bad im sentimentalen Rausch warten. Aber Mahler als Vorreiter der Moderne ist hier sicher immer wieder neu zu erleben. In der Box nehmen die Mahler Aufnahmen einen bedeutenden Platz ein. Boulez hat mit verschiedenen Orchestern alle Symphonien eingespielt, aber auch das „Lied von der Erde“ (Urmana, Schade), „Das klagende Lied“ (Röschmann, Larsson, Botha) und alle großen Liederzyklen (Kozena, Gerhaher, Urmana, Quasthoff, von Otter).

Pierre Boulez war ein stolzer Superstar der Klassik. Die New Yorker Philharmoniker und das BBC Symphony Orchestra in London erkoren ihn parallel zu ihrem Chefdirigenten. Dann erfolgte der Ruf nach Bayreuth. Ein genialer und kompromissloser Musiker, den ein Kult umweht wie nur noch Nikolaus Harnoncourt. Wer Boulez in allen musikalisch interpretatorischen Facetten kennenlernen will, wird zusätzlich zu den frühen Aufnahmen für Columbia Records an dieser großartigen Box mit blitzgescheiten Aufsätzen von Wolfgang Stähr nicht herumkommen. 

Inhalt der 84 CDs und 4 Blu-rays

  • Bela Bartok: 4 Orchesterstücke; Konzert für Orchester; Tanzsuite; 2 Bilder; Ungarische Skizzen; Divertimento; Der wunderbare Mandarin; Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug, Celesta; Cantata profana; Der hölzerne Prinz; Klavierkonzerte Nr. 1-3; Konzert für 2 Klaviere; Violinkonzerte Nr. 1 & 2; Violakonzert; Rhapsodien Nr. 1 & 2 für Violine & Orchester; Herzog Blaubarts Burg
  • Alban Berg: Kammerkonzert; Lulu-Suite; Lulu (Gesamtaufnahme)
  • Hector Berlioz: Symphonie fantastique; Tristia; Roméo et Juliette; Les Nuits d’Été
  • Harrison Birtwistle: Theseus Game; Earth Dances; Tragoedia; 5 Distances; 3 Settings of Celan; The Triumph of Time
  • Pierre Boulez: Notations; Structures Livre II; explosante-fixe; Le Marteau sans maître; Dérives 1 & 2; Pli selon pli; Répons; Dialogue de l’ombre double; Sur Incises; Messagesquisse; Anthèmes 2
  • Anton Bruckner: Symphonie Nr. 89
  • Claude Debussy: Prelude a l’apres-midi d’un faune; Images; Printemps; Nocturnes; Premiere Rhapsodie; Jeux; La Mer; Danses
  • György Ligeti: Kammerkonzert; Ramifications; Aventures; Nouvelles Aventures; Klavierkonzert; Cellokonzert; Violinkonzert
  • Franz Liszt: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2; Consolation Nr. 3; Valse oubliee
  • Gustav Mahler: Symphonien Nr. 1-10 (Nr. 6 in zwei Einspielungen); Des Knaben Wunderhorn; Lieder eines fahrenden Gesellen; Rückert-Lieder; Kindertotenlieder; Das Lied von der Erde; Totenfeier
  • Olivier Messiaen: Poemes pour Mi; Le Réveil des oiseaux; Sept Haikai; Chronochromie; La Ville d’en haut; Et expecto resurrectionem mortuorum
  • Maurice Ravel: Ma Mere l’oye; Une Barque sur l’océan; Alborada del gracioso; Rapsodie espagnole; Bolero; Daphnis et Chloe; La Valse; Klavierkonzert; Klavierkonzert für die linke Hand; Sheherazade; Le Tombeau de Couperin; Pavane pour une infante défunte
  • Arnold Schönberg: Pelleas und Melisande; Klavierkonzert; Pierrot lunaire; Herzgewächse; Ode to Napoleon Buonaparte
  • Alexandre Scriabin: Le Poeme de l’extase; Klavierkonzert; Prometheus
  • Richard Strauss: Also sprach Zarathustra
  • Igor Strawinsky: Scherzo fantastique; Le Roi des étoiles; Le Chant du Rossignol; L’Histoire du Soldat; Der Feuervogel; Feu d’artifice; 4 Etudes; Petruschka; Le Sacre du Printemps; Symphonie für Bläser; Psalmensymphonie; Ebony Concerto; Concertino; 8 Instrumental Miniatures; Dumbarton Oaks; Doppelkanon; Lieder
  • Karol Szymanowski: Violinkonzert Nr. 1; Symphonie Nr. 3 „Lied der Nacht“
  • Edgar Varese: Ameriques; Arcana; Deserts; Ionisation
  • Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen; Parsifal
  • Anton Webern: Symphonie op. 21; Stücke für Orchester op. 6 Nr. 1-6; 5 Sätze op. 5; Passacaglia; Kantaten Nr. 1 & 2 op. 29 & 31; Das Augenlicht op. 26 für Chor & Orchester; 5 Orchesterstücke; 3 Orchesterlieder; Variationen für Orchester op. 30; Konzert op. 24; Quartett op. 22; Klavierquintett op. posth.; 5 Orchesterstücke op. 10; Lieder opp. 8, 13, 14, 18, 19; 5 Geistliche Lieder op. 15; 6 Kanons op. 16; 3 Volkstexte op. 17; Entflieht auf leichten Kähnen op. 2
  • Johann Sebastian Bach / Anton Webern: Ricercat
  • Franz Schubert / Anton Webern: Deutsche Tänze D. 820
  • Interviews: Pierre Boulez über Debussy, Mahler & Weber
  • 4 Blu-ray – Wagner: Der Ring des Nibelungen (Eine Produktion der Bayreuther Festspiele / Regie: Patrice Chereau / Gwyneth Jones, Jeannine Altmeyer, Norma Sharp, Ortrun Wenkel, Hanna Schwarz, Peter Hofmann, Siegfried Jerusalem, Donald McIntyre, Heinz Zednik, Matti Salminen, Orchester der Bayreuther Festspiele, Pierre Boulez)

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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