CD-Box „NIKOLAUS HARNONCOURT LIVE“ – The Radio Recordings 1981-2012 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra; RCO
Der ideale Einstieg für ein tieferes Verständnis des österreichisch-steirischen Maestro
„Wir tun, was sie wollen“
Konzertmeister des RCO Hermann Krebbers 1975
Nikolaus Harnoncourt war keiner, der auf Touren alle Ecken dieser Welt abklapperte. Vielmehr beschränkte sich der innovative Dirigent, neugierige Musikforscher, bedeutende Pädagoge am Salzburger Mozarteum und begnadete Geschichtenerzähler grosso modo auf wenige Städte (Wien, Zürich, Berlin, Graz, Amsterdam, spät Salzburg), Solisten und Orchester seines Wirkens. Da fand er all das, was er als genuin in Wien erzogener Musiker brauchte, um seine Visionen der Interpretation Alter, klassischer bis romantischer Musik umzusetzen.
Waren es bei den Orchestern der von ihm selbst gegründete und mit vom Mund abgesparten Instrumentarium ausgestattete Concentus Musicus Wien, so präferierte Harnoncourt, vor allem mit dem Chamber Orchestra of Europa, den Wiener und Berliner Philharmonikern, der Philharmonie Zürich rsp. dem Orchester der Oper Zürich und mit dem Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam zu arbeiten.
Sein Debüt bei dem niederländischen Spitzenklangkörper erfolgte bereits sehr früh, nämlich am 21.3.1975 mit J.S. Bachs „Johannes Passion“. Da war der damals fast noch frisch gebackene Dirigent, er stand ab 1972 am Pult (Debüt am 28.12.1971 mit Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria“ an der Piccola Scala Mailand), endgültig seiner Position als Cellist bei den Wiener Symphonikern (1952 – 1969) entwachsen. Ab 1953 hatte sich der Künstler mit Verve der Gründung eines eigenen Alte Musik Ensembles, dem Concentus Musicus Wien, gewidmet. Auch wenn Harnoncourt sich in Amsterdam und anderswo zunächst „nur“ mit einem beschränkten Repertoire an Komponisten aus der Barockzeit auseinandersetzte, darf seine frühe Arbeit mit dem Royal Concertgebouw Orchestra (RCO) aus Sicht des Musikologen und Journalisten Bas van Putten als „das wirkliche Sprungbrett“ zu einer internationalen Dirigentenkarriere gelten.
Wie anhand der Aufnahme von Johannes Bachs „Johannes Passion“ vom 15.4.1984 leicht nachvollzogen werden kann, war sein stilistischer Eingriff in die Traditionen und Spielweisen des Orchesters in diesem Fall ein maximaler. Wie bei seinem „Originalklangensemble“ in Wien, musste das Amsterdamer Orchester sich in der Spielweise, (kleinere Besetzung, kurze Phrasen, wenig Vibrato bei den Streichern, Bogenführung), in den Tempi (flott vorwärtsdrängend) und der Ausdrucksweise (stets in aller bis in Grenzbereiche ausgereizten Drastik der Mittel ausschließlich der inneren musikalischen Wahrhaftigkeit verpflichtet und nicht einer nivellierten Schönheit des Klangs) mit den Vorstellungen Harnoncourts vertraut machen.
Mit welcher Leidenschaft die Mitwirkenden auf einmal schroffer oder notentextbezogener artikulierten, der Klangrede Harnoncourts wie einem Messias folgten, das hatte auch der phänomenale Chor des Concertgebouw Orchesters verinnerlicht. Hören sie nur die Einleitung des ersten Chors „Herr, unser Herrscher“, die wie aus einer kochenden Volksseele kommenden chorischen Einwürfe, so werden Sie feststellen, dass die von Harnoncourt gesäte Frucht einer zugespitzten Dramaturgie und einer vertieften Textauslegung auch weitab von historischen Instrumenten aufging.
Im Übrigen dürfte die spezielle Stimmung, der liberal aufrührerische Geist in den ausgehenden 60-er Jahren in den Niederlanden dazu beigetragen haben, dass die ungewohnten Klangbilder der historischen Aufführungspraxis früh angenommen wurden. Die Medien in Amsterdam reagierten damals „aufbauend kritisch und zurückhaltend positiv“ (van Putten). Nicht unwesentlich dürfte auch gewesen sein, dass Teile des Orchesters u.a. auch bei dem ganz im Zeitgeist musizierenden Nederlands Blazers Ensemble tätig war.
Vielleicht ist ja das Verdienst von Harnoncourt und der ganzen sog. historisch informierten Aufführungspraxis weniger die Rückbesinnung auf ein technisch teils wirklich weniger ausgereiftes Instrumentarium, sondern die kompromisslose Auffassung von Musik – aus einem wissenschaftlich erforschten Verständnis der Entstehungszeit in Bezug auf das originale Notenbild heraus – als ein emotional ehrliches Spiegelbild, das jedes Kunstwerk von Rang uns entgegenhält..
„Schönheit kann erst zu Schönheit werden, wenn man sie mit ihrem Gegenteil konfrontiert.“ Dass in extremis kein Abgrund camoufliert wurde, kein glättendes Botox in die Partituren gespitzt wurde, heißt aber nicht, dass Harnoncourt selbstverständlich dort, wo Ruhe und Innigkeit gefragt sind, ungemein klangschön und voller lyrischer Poesie am Werk war. Auch oder gerade bei Mozart: Als berührende Beispiele mögen die entsprechenden Passagen in der Konzertarie „Ch’io mi scordi di te“ mit der Sopranistin Charlotte Margiono (Klavier Marja Bon) vom 9.1.1992 oder im Klavierkonzert Nr. 13 in C-Dur KV 415/387b) vom 18.9.1981 (gespielt vom US-amerikanischen Pianisten Malcolm Frager) dienen.
Außerdem ist es eine Legende, dass Harnoncourt immer mit dem Kopf durch die Wand radikale Interpretationen gesucht hätte. Hören Sie sich Haydns „Die Schöpfung“ aus dem Concertgebouw vom 22.10.2000 (mit Dorothea Röschmann, Kurt Streit, Anthony Michaels-Moore, Arnold Schoenberg Chor), so werden Sie feststellen, dass sorgfältig gearbeitet wurde, aber die Lesart von Rhythmus und Tempo her erstaunlich „konventionell“ klingt.
Anders Beethovens „ Missa solemnis“ vom 25.4.2012 (mit Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Werner Güra, Gerald Finley, Niederländischer Radio-Chor), wo Harnoncourt nach einem langsamen Kyrie ein grandios jubelndes und von himmlischer Macht kündendes Gloria anstimmt sowie das Credo vom Chor vorsichtig herantastend an die Botschaft artikulieren lässt. Das „Et incarnatus est“ scheint aus einer anderen Dimension herüberzuwachsen.
Ausgehend von den beiden Bach-Passionen am Palmsonntag, die Harnoncourt jährlich in Amsterdam abwechselnd dirigierte, erweiterte er allmählich sein Repertoire über das 18. Jahrhundert hinaus über die Früh- und Hochromantik und bis ins 20. Jahrhundert hinein (Alban Berg). 1984 präsentierte Harnoncourt in Amsterdam erstmals Musik von Johann Strauss. Der „Donauwalzer“ und zwei Ausschnitte aus der „Fledermaus“ (Solisten Magda Nadór, Arleen Augér und Thomas Hampson) fanden Aufnahme in die vorliegende Anthologie.
In den späten 80-er und 90-er Jahren ging es Schlag auf Schlag: Harnoncourt dirigierte in Amsterdam die „Unvollendete“ von Franz Schubert im Juni 1987 (die Symphonie Nr. 8 in b-Moll D 759 in der Box stammen Radiomitschnitten vom 7.11.1997, die Große C-Dur Symphonie D 944 vom 11.11.1992), 1988 Beethoven und Luciano Berios Schubert Bearbeitung „Rendering“. Ab 1994 programmierte Harnoncourt Robert Schumann (Hören Sie die Aufnahmen der „Manfred Ouvertüre“, der ersten und dritten Symphonie von Konzerten aus dem Jahr 2004), Johannes Brahms und Anton Bruckner. Von letzterem findet sich die Symphonie Nr. 4, die „Romantische“ in einem Mitschnitt vom 3.4.1997 in der Auswahl für die Box.
In „The Radio Recordings 1981-2012“ finden sich von Johannes Brahms die Erste (24.3.1996) und Dritte Symphonie (20.1.1996) sowie dessen „Tragische Ouvertüre“ (12.5.1996), aber auch Wunderbares von Felix Mendelssohn-Bartholdy (Der Psalm 42 vom 26.4.2009 und „Ein Sommernachtstraum“ Op. 21 & 61 mit Julia Kleiter, Elisabeth von Magnus, Gerd Böckmann). Aber auch mit den „Biblischen Gesängen“ von Antonin Dvorak (Solist Christian Gerhaher, 28.11.2004) und seiner Siebten Symphonie in d-Moll, Op. 70 (20.3.1998) sind nun Live-Dokumente zugänglich, die das Verständnis dieses uneitlen, dafür umso kompromissloseren Antistars der Klassik erweitern und abrunden.
Ich stimme dem Autor des Booklets zu, wenn er meint, dass Harnoncourt jedes Stück „als einzigartiges, mit nichts anderem zu vergleichenden Universum auffasste“ und sich in der Ausführung je nach Abend selbst bei ein und demselben Stück stark bis dramatisch von der Voraufführung unterscheiden konnte. Harnoncourt war ungemein flexibel und vielseitig, wie es das technisch und klanglich fulminante RCO bis heute ist. Der größte Fehler wäre es, ihn in irgendeine Schublade stecken zu wollen. Die vorliegende Box legt davon beredt Zeugnis ab. Vor allem war er ein seriöser Musiker, voller genauer Umsicht und erstaunlichen Sichtweisen, was die Begegnung mit seinen Live-Mitschnitte so aufregend macht. Natürlich müssen sich die Musikfreunde auf das Gebotene vorurteilsfrei einlassen und keinesfalls alles goutieren, aber ist das nicht bei allen großen Dirigenten, die wirklich was Eigenständiges zu sagen haben, so? Bei seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1995 stellte er die Frage: „Was ist Wahrheit? oder Zeitgeist und Mode“. Genau diese Frage müssen wir uns nicht nur in der Musik dauernd stellen, um zeitlose Qualität erkennen zu können.
Inhalt der Box
- Anton Bruckner: Symphonie Nr. 4 (1997)
- Antonin Dvorak: Symphonie Nr. 7 (Aufnahme & Probenfragmente 1998); Biblische Lieder op. 99 (Christian Gerhaher / 2004)
- Felix Mendelssohn-Bartholdy: Ein Sommernachtstraum (Julia Kleiter, Elisabeth von Magnus, Gerd Böckmann, Netherlands Chamber Choir, 2009); Psalm 42 „Wie der Hirsch schreit“ (Julia Kleiter, Netherlands Chamber Choir, 2009)
- Franz Schubert: Symphonien Nr. 8 (1997) & 9 (1992)
- Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion (Kurt Equiluz, Robert Holl, Marjana Lipovsek, Anthony Rolfe Johnson, Concertgebouw Choir, 1984)
- Johann Strauss II: An der schönen blauen Donau op. 314 (1984); Auszüge aus „Die Fledermaus“ (Arleen Auger, Magda Nador, Thomas Hampson, 1984)
- Johannes Brahms: Symphonien Nr. 1 & 3; Tragische Ouvertüre (1996)
- Joseph Haydn: Die Schöpfung (Dorothea Röschmann, Kurt Streit, Anthony Michaels-Moore, Arnold Schoenberg Chor, 2000)
- Ludwig van Beethoven: Missa solemnis op. 123 (Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Werner Güra, Gerald Finley, Netherlands Radio Choir, 2012); Symphonie Nr. 1 (1998); Konzertarie op. 65 „Ah! Perfido“ (Charlotte Margiono, 1998)
- Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonien Nr. 39-41 (1991); Klavierkonzert Nr. 13 (Malcolm Frager, Klavier / 1981); Ch’io mi scordi di te – Non temer, amato bene KV 505 (Charlotte Margiono, Marja Bon, 1992)
- Robert Schumann: Symphonien Nr. 1 & 3; Manfred-Ouvertüre op. 115 (2004)
Dr. Ingobert Waltenberger